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Digitale Doppelgänger (Frankfurter Rundschau, 24.1.2003)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Digitale Doppelgänger

Besteht die Identität eines Menschen aus Zahlen, kann sie gestohlen werden

Frankfurter Rundschau, 24.1.2003

Im Film "Metropolis" von 1926 brauchte der Forscher Rotwang viel Metall und Strom für einen Identitätsdiebstahl: Unter Blitzen und Lichtbögen bekam ein Roboter das Aussehen der Arbeiterführerin Maria. Das künstliche Wesen sollte sie ersetzen und die Massen kontrollieren. Heute reicht für den Identitätsklau – zumindest in den USA – eine neunstellige Ziffernfolge, die auf vielen, nicht immer ausreichend gesicherten Rechnern liegt.

Das mussten gut 500 000 Angehörige der US-Armee erfahren, deren Sozialversicherungsnummern, Adressen und Namen von Einbrechern aus einem Computer der Krankenkasse Tri West gestohlen wurden. Die Versicherung hat 100 000 US-Dollar Belohnung ausgesetzt und überwacht auf Wunsch kostenlos die Einträge über die Kreditwürdigkeit der Betroffenen. Denn mit den Daten ist es leicht, Konten zu eröffnen und im Namen anderer einzukaufen. Dazu brauchen die Kriminellen nicht einmal Kreditkartennummern – es geht auch auf ungedeckten Kredit.

Eine Studentin schöpfte erstmals im April Verdacht, als eine Fluglinie wegen zwei mit ihrer Kreditkarte gebuchten Tickets nachfragte. Als sich im Juli ein Elektronikhandel für die Deckung des Kredits interessierte, waren auf ihren Namen bereits 50 000 Dollar Schulden angehäuft. Die Frau war bis in den Winter beschäftigt, die Firmen von der Unrechtmäßigkeit der Forderungen zu überzeugen und ihre Kreditwürdigkeit wiederherzustellen.

Hysterische US-Medienberichte über solchen Identitätsklau erinnern an Schauerromane des 19. Jahrhunderts. Damals erlebten Menschen in der Arbeitswelt, wie mehr und mehr Aufgaben an Maschinen übergingen. Immer öfter tauchten Doppelgänger in den Geschichten Jean Pauls oder E.T.A. Hoffmanns auf. Die damals heftig diskutierte Frage, was Menschlichkeit ausmacht, steht heute etwas nüchterner im Raum: Aus wie vielen Daten besteht die Identität eines Menschen ?

In Deutschland glücklicherweise aus wesentlich mehr als in den Vereinigten Staaten. Dort identifizieren sich Bürger fast ausschließlich mit der Sozialversicherungsnummer gegenüber Staat und Kreditgebern. Denn ein nationaler Personalausweis fehlt, Reisepässe besitzen nur wenige, und die Führerscheine der Bundesstaaten sind selten fälschungssicher.

"Diese Probleme haben wir in Deutschland nicht", sagt der stellvertretende Landesbeauftragte für den Datenschutz in Schleswig-Holstein, Thilo Weichert. Hier zu Lande sei "in fast allen Fällen die Identifizierung über den Personalausweis nötig" – und die Angst vor Identitätsklau daher unberechtigt. Ohne den per Ausweis verifizierten Namen und Wohnort gebe es weder Konto noch Kreditkarte. Es sind also mehr Angaben als neun Ziffern nötig.
Dennoch ist die einfachste und wirkungsvollste Variante des Identitätsklaus auch in Deutschland möglich: Mit einer Kreditkartennummer können Kriminelle in fremdem Namen einkaufen. Weichert: "Das ist ja fast schon klassisch – unberechtigte Internet-Bestellungen, da online eine direkte Identifizierung nicht möglich ist." Den größten Teil der Computerkriminalität – die Zahl der Fälle hat sich von 1993 bis 2001 verachtfacht – macht in der deutschen Kriminalstatistik denn auch der Betrug mit solchen rechtswidrig erlangten Karten aus. Gut 60 Prozent von 80 000 Fällen waren es 2001.

Die Kreditkartennummern beschaffen sich unliebsame Zeitgenossen auf verschiedenen Wegen. Meist stehlen sie die Daten. Wie Unternehmen wichtige Kundeninformationen auf ihren Rechnern schützen, darüber sagen selbst bekannte Vertreter wie Amazon und E-Bay nichts, nicht einmal Allgemeines. Öffentlich geworden ist daher bislang eher Negatives, etwa dass im Jahr 2001 Hacker bei der Amazon-Tochter Bibliofind die Kreditkartendaten von fast 100 000 Kunden klauten.

Die Anbieter der elektronischen Geldbörsen sind dabei, Diebstahl und Nutzung erschwindelter Informationen zu erschweren: Neue Verfahren prüfen und belasten die Kartennummer online auf einem Zentralrechner der Gesellschaften; die Angaben werden nicht bei den Händlern gespeichert. In einem nächsten Schritt sollen Passwörter folgen, die ebenfalls über die Infrastruktur der Kreditkartenunternehmen kontrolliert werden.

Es geht aber nicht nur ums Geld. Auch viele andere Aspekte der Identität jedes Bürgers sind digitalisiert. Detaillierte Informationen über Verdienst, Arbeitgeber, Schulzeiten, Arbeitslosigkeit und Kinder schlummern etwa in den Datenbanken der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Ärzte und Krankenkassen arbeiten mit Gesundheitsdaten. Und Auskunfteien wie die Schufa kennen Informationen über die finanzielle Vergangenheit. Den Schutz all der Angaben reglementieren in Deutschland die Datenschutzgesetze stark, weit stärker als in den Vereinigten Staaten. Dort lockerte 1989 die "Federal Trade Commission" auf Druck von Auskunfteien, Kautionsbüros und Privatdetektiven den Schutz für Informationen über die Kreditwürdigkeit. Folge: Für 49 Dollar liefern Anbieter wie docusearch.com die Sozialversicherungsnummer jeder beliebigen Person. In Deutschland sind die Schufa und ihre Konkurrenten verpflichtet, stichprobenartig die Berechtigung von Anfragen zur Kreditwürdigkeit zu prüfen.

Die spannendsten Dinge geben die Bürger manchmal ohnehin freiwillig preis – vor allem in den Diskussionsforen des Usenets. Im Archiv der Suchmaschine Google (groups.google.de) stehen Beiträge aus mehr als einem Jahrzehnt. Einzeln betrachtet sind viele harmlos; mehrere Texte eines Autors zusammen liefern aber oft weit mehr Details, als man etwa Marktforschern anvertrauen würde. Ganz zu schweigen von den erotischen Kurzgeschichten einer hochrangigen Universitätsangestellten, die man in Verbindung mit ihrer offiziellen E-Mail-Adresse ohne Mühe findet. Nicht ohne Grund gehört zur Recherche von Personalvermittlern längst die Suche in den Newsgroups.
Das Bewusstsein für die digitalisierten Lebensspuren wächst nur langsam – langsamer jedenfalls als die Technologie. In etwa vier Jahren soll laut Gordon Bell, Chef der Microsoft-Forschungsgruppe "My LifeBits" eine Technologie marktreif sein, die den Alltag eines Menschen in Form von digitalisierten Dokumenten, Bildern, Tönen und Videos speichert. Die nötige Speicherkapazität für die digitalen Erinnerungen eines Menschenlebens sieht Bell bei 1000 Gigabyte. Er selbst hat seit 1995 in seinem Zweitgedächtnis auf einer Festplatte 30 Gigabyte angehäuft. Viel neuer Stoff für Datenschützer – und neue Jean Pauls.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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