Digitales Orchester: Der Computer spielt die erste Geige (Spiegel Online, 10.5.2007)
Digitales Orchester
Der Computer spielt die erste Geige
Bis Herbst 2008 will der Dirigent Paul Henry Smith in einem Konzerthaus drei Beethoven-Sinfonien aufführen – gespielt von einem Computerorchester. Die Technik ist heute schon so weit, dass selbst Musikwissenschaftler beim ersten Hören keinen Unterschied feststellen – fehlt nur noch das Konzerthaus.
Spiegel Online, 10.5.2007
Als Teenager hat Paul Henry Smith bei Leonard Bernstein das Dirigieren studiert. Als Musikwissenschaftler hat er im Media Lab des Massachusetts Institute of Technology geforscht – auch mit einem der ersten von einem Computer gespielten Klaviere der Welt. Jetzt bringt der 43-jährige Amerikaner die klassische Musik und die Computer zusammen: Die von ihm gegründete Initiative "Digital Orchestra League" will 2008 drei Beethoven-Sinfonien aufführen – dirigiert von Smith, live gespielt von Computern.
Dirigent Smith ist sich sicher: "Die Qualität der besten digitalen Aufführungen übertrifft heute schon die einer schlechten und sogar einer mittelmäßigen Aufführung eines echten Orchesters." Der Dirigent sieht das digitale Orchester als Chance, zwei große Probleme klassischer Musik zu überwinden. "Orchestermusik aufzuführen ist teuer, deshalb hört man selten neue Kompositionen und Experimente mit alten Meisterwerken", erklärte er im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Das will Smith ändern. Wesentliche Voraussetzungen für sein Vorhaben sind schon erfüllt.
Die Musik
Die österreichische Firma "Vienna Symphonic Library" (VSL) hat alle Klänge digitalisiert, die ein Symphonieorchester hervorbringen kann. 1,7 Millionen Musikschnipsel sind das, Töne und Tonfolgen, aufgenommen in allen Spielarten wie Legato und Glissando, von jedem Orchesterinstrument und von verschiedenen Ensembles, zum Beispiel mehreren Streichern. Mehr als 150 Wiener Orchestermusiker haben diese Bibliothek über fünf Jahre hinweg in einem eigens dafür gebauten Studio eingespielt. Die Musikschnipsel können Kreative zu beliebigen Kompositionen arrangieren – gehört hat von der VSL gespielte Musik jeder schon einmal: Im Fernsehen, im Kino, in der Werbung. Mehr als 10.000 Kunden nutzen die VSL weltweit. Einer von ihnen ist der Dirigent Paul Henry Smith.
Die Musiker
Mit der VSL-Datenbank arrangiert Smith die groben Linien der Aufführung vorab: Wer spielt wie wann? Jedes Instrument hat eine Spur, Note für Note bestimmt Smith vorab. Die Feinheiten arbeitet er während des Konzerts aus: Lautstärke, Balance, Tempowechsel, die Zeit zwischen dem Ende einer Phrase und dem Beginn der nächsten. "Damit reagiere ich während des Konzert auf den Klang, der in dem Konzertsaal herrscht", sagt Smith.
Ob er all das allein steuern kann, ist noch nicht entschieden. Denkbar ist, dass einige Musiker nach Smiths Hinweisen Teile des Orchesters im Detail steuern, zum Beispiel die Holzbläser, Blechbläser, Streicher. Smith: "Wahrscheinlich werden drei oder vier Musiker neben mir auf der Bühne sein. Keine Maschinen – die sind unsichtbar, die sind langweilig und um die geht es auch nicht."
Der Dirigentenstab
Höchstwahrscheinlich wird Smith als Dirigentenstab die Fernbedienung von Nintendos Spielkonsole Wii nutzen. Das drahtlose Gerät registriert die Position im Raum, kann so die Gesten des Dirigenten ohne merkliche Verzögerung an eine Software übermitteln, die dann die Anweisungen interpretiert. Falls Musiker Teile des Orchesters übernehmen, werden auch sie ihren Part mit einem Wii-Controller steuern: "Es gibt auch andere Systeme, aber unsere ersten Tests zeigen uns, dass der Wii-Controller erst einmal genügt", sagt Smith.
Eine Alternative könnte später einmal der Dirigenten-Pullover sein, an dem die US-Musikwissenschaftlerin Teresa Marrin Nakra schon seit Jahren arbeitet. Sie ist ein Mitglied im Beirat von Smiths "Digital Orchestra League".
Die Gesten des Dirigenten übersetzt eine Software in Anweisungen für den Computer. Solche Programme entwickelt das Unternehmen "Realtime Music Solutions". Diese Hilfsmittel sind längst im Einsatz, bei Musicals am Broadway und im Londoner West End, auch bei Auftritten des "Cirque du Soleil" – immer, wenn digitale Instrumente mitspielen. Der Entwicklungschef von RMS, David B. Smith, ist auch ein Mitglied im Beirat von Smiths "Digital Orchestra League".
Wie fühlt es sich für einen Dirigenten an, der schon in Konzerthäusern gestanden hat, mit dem Controller einer Spielkonsole einen Computer zu dirigieren? Smith: "Gewohnt und merkwürdig zugleich. Gewohnt, weil ich dieselbe Geste mache und die Musik anschwillt. Merkwürdig, weil eben diese Reaktion sofort kommt, jemand reagiert, aber niemand zu sehen ist. Als würden unsichtbare Geister-Musiker spielen."
Einen Nachteil hat der Wii-Controller als Dirigentenstab allerdings: Er ist schwerer. "Nach einer Beethoven-Symphonie schmerzt meine Schulter richtig. Ich werde Krafttraining machen."
Die Lautsprecher
Das ist die größte Herausforderung für Smith: "Ich habe bis jetzt noch kein Lautsprechersystem gefunden, das der Aufgabe gerecht wird. Hier könnten wir ein Problem bekommen." Die Aufgabe ist, die feinsten Nuancen, auch bei leisesten Passagen, ebenso gut klingen zu lassen wie die lautesten, energiegeladenen – ohne Verzerrungen, Härte, Verschwommenheit. Und das in jedem Konzerthaus, in dem Smith das digitale Orchester dirigiert.
Das Konzerthaus
Einen Aufführungsort hat Smith noch nicht sicher. Das ist das zweite ungelöste Problem. Gespräche laufen mit Häusern in Seoul, San Francisco, Boston, North Carolina und Shanghai.
Smiths digitales Orchester täuscht sogar Musikwissenschaftler
Die Komponisten
Für den ersten Auftritt hat Smith Beethoven gewählt. Das ist öffentlichkeitswirksam – ein prominenter Komponist und mehr als ein Jahrhundert klassischer Aufführungspraxis. Doch ein Ziel der "Digital Orchester League" ist es, die Musik junger, unbekannter Komponisten aufzuführen. Damit verdient Smith heute schon sein Geld: Komponisten schicken ihm ihre Werke und bezahlen für eine Einspielung durch das digitale Orchester. Einer von ihnen, Matthew Fields, hat die Beispielrechnung aufgemacht: Für eine Einspielung mit 18 Musikern hat er 50.000 Dollar bezahlt. Eine sechsminütige Aufnahme von Smiths digitalem Orchester hat ihn hingegen nur 800 Dollar gekostet.
Das Publikum
Smith spielt regelmäßig Musik nicht nur für Komponisten, sondern auch für Fernsehserien, Werbespots und Kinofilme ein (Hör-Beispiele hier). Zuschauerproteste hat es bislang nicht gegeben – vielleicht weil niemand den Unterschied gehört hat. Aber wird ein geschultes Publikum, das sich nur auf die klassische Musik konzentriert, nicht einen Unterschied hören?
Das "Wall Street Journal" hat einen Test gemacht, zwei Musik-Professoren vier Passagen aus Beethovens 7. Symphonie vorgespielt, einmal von einem normalen Orchester, einmal von Smiths digitalem Gegenstück eingespielt. Ergebnis: Beide hielten beim ersten Hören die Interpretation der echten Musiker für das Werk eines Computers. Um die Reaktion des Publikums muss sich Smith also nicht sorgen.
Um die Reaktionen echter Musiker schon eher. Auf Smiths Internetseite kann man besorgte und hasserfüllte Kommentare lesen: "Versuchen Sie, Musiker arbeitslos zu machen?", fragt ein anonymer Kommentator und am Broadway haben Musikergewerkschaften schon im März 2003 gegen die Einführung "virtueller Instrumente" gestreikt. Der Kompromiss damals: Die Technik darf genutzt werden, aber nur mit Zustimmung der Gewerkschaft.
Die Angst vor der neuen Technik ist groß: "Das ist der letzte Sargnagel für die ohnehin sterbende klassische Musik", schreibt anonym ein Kommentator auf Smiths Internetseite. Der Komponist versteht diese Sorge nicht. Er sieht sein Orchester nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung: "Als der Buchdruck entwickelt wurde, kam die Renaissance. Wir werden eine ähnliche Blüte bei der Orchestermusik erleben."