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Dissonanz und Urknall (Süddeutsche Zeitung, 12.5.2001)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

Dissonanz und Urknall

Wie Richard Wagner die Physik des 20.Jahrhunderts vertonte

Süddeutsche Zeitung,  12.5.2001

Richard Wagner begeisterte sich nicht für Physik. Ja, er glaubte gar, dass „das jetzige Studium der Natur-Wissenschaften die Menschen vollständig herzlos“ mache. Das hat ihn nicht gehindert, im Parsifal und im Ring des Nibelungen die Vorstellung von Raum und Zeit der Physik des 20.Jahrhunderts vorausahnend auszudrücken. Wie – Wagner spürte Einsteins Raumzeit? Wer auf diese These hin ungläubig Hans Melderis’ Buch beiseite legt, ist – wie Wagner in seiner leichten Aversion gegen die Naturwissenschaft – ein Opfer von Descartes geworden.

Wer Wagner erfahren will, muss erst an Descartes leiden. An seiner Trennung der Welt in einen „mechanistisch-toten und einen seelisch-lebendigen Teil“, wie Melderis es ausdrückt. Er wird heulen bei Descartes’ Satz: „Auf unserer Suche nach dem unmittelbaren Weg zur Wahrheit sollten wir uns nicht mit Dingen abgeben, über die wir keine mit den Beweisen der Arithmetik und Geometrie vergleichbare Gewissheit erlangen können.“ Denn sind diese Dinge so klar voneinander zu trennen? Die Materie vom Geist, oder von der Kunst?

Wer sich nicht einfach so auf den schönen Gedanken einlassen kann, dass das Gesamtkunstwerk Wagners eine Wiedergeburt der Einheit von Mythos und Wissenschaft, von Musik und Mathematik wie bei Pythagoras ist, der bekommt von Melderis gute Gründe dafür. Diesen Gedanken des Physikers Werner Heisenberg etwa: „Wissenschaft und Kunst bilden im Laufe der Jahrhunderte eine menschliche Sprache, in der wir über die entfernteren Teile der Wirklichkeit sprechen können; und die zusammenhängenden Begriffssysteme sind ebenso wie die verschiedenen Kunststile gewissermaßen nur verschiedene Worte oder Wortgruppen in dieser Sprache.“ Der Urknall ist wie der Schöpfergott eine Erzählung, eine Erzählung die schon als Schaffensakt an sich den kosmogonischen Akt wiederholt. Diese Einheit von Wissenschaft, Kunst und Mythos lässt sich besser noch als durch die Metapher des Sprechens als ein ständiges Schaffen von Bilder verstehen. Auch hier besänftigt Melderis die von Descartes geschädigten Gemüter mit einem Gewährsmann, dem Astronomen John D. Barrow: „Vorstellung – das Anfertigen von Bildern – ist die Wurzel aller menschlichen Kreativität, und leitet unsere bewußte Erfahrung der Welt.“

Melderis will wirklich jeden von der Berechtigung seiner Herangehensweise an Wagners Werks überzeugen. Leider verprellt der Aufwand, den er dafür treibt, wieder jene aufgeschlossenen Leser. Die Schwäche des Buches ist, dass es sich ständig für seine Existenz rechtfertigt. Zitatwolken werden da am Lesehimmel beschworen, der sich über Zweiflern bedrohlich düster bezieht. Es blitzt und donnert: Schopenhauer! Goethe! Nietzsche! Benjamin! Adorno! Kant! Shakespeare! Über Seiten hinweg wird ein Gedanke immer wieder mehr oder weniger neu formuliert. In seinem Furor oder seiner Furcht vor uninspirierten Denkern macht Melderis es seinen Lesern dann manchmal gar zu einfach, indem er die Dinge einfach beim Nennwert nimmt: Die geweihte Woge, von der das Wasserwesen Woglinde zu Beginn im Rheingold singt, wird dann einfach als Parallele zur Bedeutung des Wasserstoffs bei der Entstehung des Universums gesehen. Ein Schlenker über die Bedeutung des Wassers in jeder Mythologie hätte dem Gedanken gut getan. Besser jedenfalls als die Methode, ähnliche Begriffe nebeneinander zu stellen, um jeden Kleingeist zufriedenzustellen.

Manchmal führt die Vereinfachung zu einem schlicht unpräzisen Gedanken. Zum Beispiel wenn Melderis die Relativitätstheorie eine ästhetische Konstruktion des Denkens nennt, um als Ansicht die Tatsachen der „unmittelbaren äußeren Erfahrung“ zu ordnen. Genau das leistet die Relativitätstheorie ja nicht, da die von ihr beschriebenen Phänomene nur mittelbar, allein über die Theorie erfahren werden können. Die Ästhetik ist hier eine allein mathematische.

Dabei hat Melderis diesen Zitatorkan, diese Wiederholungen und Vereinfachungen gar nicht nötig. Sein Gedanke eröffnet eine völlig neue Möglichkeit des Betrachtens von Musik und Wissenschaft. Statt immer neuer Rechtfertigungen würde man sich einfach nur die genaue und entspannte Anschauung selbst wünschen. Selten wagt Melderis sich daran. Aber die wenigen Sätze über das ästhetische Paradigma der theoretischen Physik eines Minimalismus der Formeln oder über die vor allem ästhetische Entscheidung von Kopernikus, die Sonne als Mittelpunkt des Alls zu sehen, entschädigen für alle Tiefpunkte.

Wer mit Melderis erkennt, wie der Dreiklang beim Rheingold- Vorspiel die Zeit konstituiert und einen Zusammenhang zwischen den Dingen und der Raumzeit ähnlich dem der Relativitätstheorie schafft, wer die Parallele dissonant gebrochener Akkorde zur weltschaffenden Symmetriebrechung in den ersten zehn Sekunden nach dem Urknall sieht, der wird verstehen, warum Stephen Hawking 1991 vom Teilchenbeschleuniger CERN unmittelbar nach Bayreuth weiterreiste. 

HANS MELDERIS: Raum – Zeit – Mythos. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2001. 228 Seiten, 42 Mark.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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