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Dotcom-Kündigungswelle: Arbeitslos und Spaß dabei (Spiegel Online, 14.12.2008)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Dotcom-Kündigungswelle

Arbeitslos und Spaß dabei

So sieht Galgenhumor aus: Start-ups im Silicon Valley entlassen reihenweise Mitarbeiter, doch die antworten mit bitteren Scherzen und werden plötzlich berühmt. SPIEGEL ONLINE zeigt Videos gefeuerter Star-Wars-Helden, Haikus über ein Leben ohne Krankenkasse – und die Aktion "Ich blogge für Essen".

Spiegel Online, 14.12.2008

Natürlich tut es weh, natürlich ist es hart, natürlich lachen Tania Khadder und John Henion nicht darüber, dass sie vor einigen Wochen mit 60 anderen jungen Menschen bei Al Gores Web-Fernsehsender CurrentTV entlassen wurden.

Doch die beiden wollen ihren Frust nicht in sich hineinfressen.


Sie schreiben ihren Ärger in einem
Blog
auf, hängen sich Pappschilder um mit Sprüchen wie "Ich blogge für
Lebensmittel", stellen sich in San Francisco auf die Straße, lassen
sich fotografieren und sind ein paar Stunden später in allen großen
US-Online-Medien zu sehen.

Khadder und Henion sind die bekanntesten der gut 100.000
hochqualifizierten Menschen, die Medien- und IT-Firmen einer Statistik
des Fachdienstes Techcrunch zufolge seit September entlassen haben.

Die Reaktion von Khadder und Henion ist exemplarisch für diese
freigesetzte Generation. Einige der Gefeuerten schreiben Geschichten,
über die man lachen kann, bis es einem im Hals steckenbleibt.

Entlassene Star-Wars-Soldaten, die Poesie der Arbeitslosigkeit und
Yahoos peinliche Anleitung zum Feuern – SPIEGEL ONLINE zeigt, wie das
Silicon Valley über die Krise lacht.


Unemploymentality – das Leben ohne Job

Unemploymentality haben Khadder und Henion ihre Seite genannt, ein
Forum soll sie sein, um die "katastrophale Wirtschaftlage zu
dokumentieren und sich zu beschweren". John Henion, 32, erzählt dort,
wie er entlassen wurde ("Ein normaler Tag, ich kam morgens rein und
ging dann wenig später mit einer Büropflanze in der einen und dem
letzten Gehaltsscheck in der anderen Hand wieder raus. Ich habe das
nicht kommen sehen.").

Tania Khadder, 29, beschreibt, wie sie ihren Kleiderschrank
leerräumt und die wenig getragenen Sachen beim Altkleiderhandel
verkauft ("26 Dollar für drei Tüten").

Neben solchen ganz und gar nicht lustigen und deshalb starken Geschichten stehen auf
Unemploymentality.com böse Gags wie die "
Vorteile der Arbeitslosigkeit" – "Frühstück" und das Vergnügen, angestellte Freunde mit SMS-Vorschlägen zu bombardieren, was man alles unternehmen könnte.


Der entlassene Star-Wars-Soldat

Zwei Jahre lang schlummerte dieser Videoclip eines Star-Wars-Fans
unbemerkt bei YouTube. Dann kam die Krise und der aus Darth Vaders
Armee gefeuerte Soldat des Imperiums, der sein Leid in voller
Kampfmontur auf dem Sofa, beim Bowling, im Supermarkt und neben
Mülltonnen klagt, ist auf einmal gefragt.

In dem Sechs-Minuten-Filmchen beklagt der Entlassene, dass er sich
mit Gelegenheitsjobs im Supermarkt über Wasser hält. Und ja, ab und an
rufe ihn Darth Vader an: "Er lässt mich eine Pizza für ihn abholen.
Aber natürlich hat er kein Geld, um sie zu bezahlen, deshalb lässt er
sich sie auch nicht liefern."

Das Stück hat John Henion wiederentdeckt und auf Unemploymentality
verlinkt – "ich hatte ja keine Ahnung, dass es in einer Galaxis weit,
weit weg genauso zugeht."

Haikus zur Krise

Im Sommer sah es für
Matthew Bottkol
wunderbar aus: Ein paar Monaten zuvor war der Werbetexter in seiner
Agentur befördert worden, er lebt in Brooklyn, entwirft Werbung für
Diät-Cola, Kekse und Nivea. Dann kommt die Krise, Bottkolls Agentur
schmeißt ihn raus und er beginnt, Woche für Woche ein Haiku über seine
Lage zu dichten.

Sein Ex-Kollege Todd Eisner zeichnet zu jedem Vierzeiler ein Motiv und sie veröffentlichen das Werk auf "
Unemployment Haiku Weekly", der "Online-Publikation, in der ein entlassener Typ alte japanische Dichtkunst mit den Gedanken eines Arbeitslosen kreuzt."

Das Ergebnis klingt im Original bei weitem besser, ist aber selbst in der Übersetzung noch so komisch wie verstörend:

Lies Comics im Laden!
Kostet nichts
Außer deine Würde.

oder

Seekühen ist es egal,
ob sie erwerbstätig sind
Leck mich, Seekuh!

Willkommen bei Fiasko Systems

Das Wirtschafts-Blog
Businesspundit.com
glänzt meist mit Quellensammlungen wie den "10 besten
Nachrichtenquellen zur Kündigungswelle" und Rankings à la "25 Manager,
die die Regeln (und ein paar Gesetze) brachen". Aber angesichts der
Massenentlassungen sei es nun an der Zeit für etwas Aufheiterung,
schreiben die Autoren und zeigen 15 per Photoshop parodierte Firmenlogos.

Aus Cisco wird Fiasko Systems, aus dem Ford-Logo wird Fail
(Versagen) und die eigentlich lustig durcheinanderwirbelnden Lettern
des Yahoo-Schriftzugs stürzen wie ein Schreckensruf ab. Wie passend.

Kostenlose Tacos für Ex-Yahoo-Angestellte

Als Yahoo am Mittwoch in den Vereinigten Staaten mehr als 1500
Mitarbeitern die Kündigungsschreiben in die Hände drücken ließ,
schickte das winzige Start-up Tokbox schnell einen Imbisswagen mit Tacos vorbei, die kostenlos verteilt wurden.

Das mag auf den ersten Blick zynisch wirken (was helfen schon
Tacos?), ist aber im Grunde bei weitem sympathischer als die bei Yahoo
organisierte Kündigungsshow. Das Klatsch-Blog Valleywag veröffentlicht die intern an Personalverantwortliche verschickte Anleitung zum richtigen Kündigen.

Beginnen sollte man diesem Leitfaden zufolge mit: " Danke, [HIER DER
VORNAME] fürs Vorbeikommen. Ich habe einige Informationen über unsere
Organisation, die ich Ihnen gerne persönlich mitteilen würde."

Auf gar keinen Fall solle man "Small-Talk machen, die Warum-Frage beantworten". Und, ganz wichtig: "15 Minuten Maximum."


Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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