Zum Inhalt springen

E-Book-Leser: Welche Geschichten das Kindle braucht (Spiegel Online, 11.2.2009)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

E-Book-Leser

Welche Geschichten das Kindle braucht

Den Kindle-Machern fehlt die Phantasie. Alle sprechen vom digitalen Buch, kaum jemand von Textformen, die als Download funktionieren könnten: Kurzgeschichten, literarische Reportagen, Romanreihen. Das Kindle könnte die Tyrannei der langen Texte beenden – ein Relikt der Buchdruck-Zeit.

Spiegel Online, 11.2.2009

Was spielt ein iPod ab? Musik – was für eine dämliche Frage. Und was liest man mit Amazons neuem Kindle 2? Bücher, behauptet alle Welt. Amazon nennt auf seiner Produktseite das Kindle "Reading Device", und das ist deutlich treffender. Denn warum sollte man mit einem Text-iPod nur Bücher kaufen, also laut Unesco-Definition "nichtperiodische Veröffentlichungen mit mindestens 49 Seiten Umfang"?


Sehr lange Texte gedruckt und gebunden zu verkaufen, war viele Jahrzehnte lang ein erfolgreiches Geschäftsmodell. Buchverlage haben bislang kein anderes erprobt, deswegen heißen sie auch so. Davon sollte sich aber niemand in die Irre führen lassen. Nur ist das Buch ein Produkt, wie es im Musikvertrieb das Album war, bevor Download-Shops wie Apples iTunes Schluss damit machten. Wer ein Lied mag, kauft sich heute bei iTunes für 99 Cent dieses eine Lied.

Natürlich kann man diese Revolution nicht einfach so auf den
Digital-Vertrieb von Texten übertragen. Romane kapitelweise zu
vertreiben, wird kaum funktionieren. Aber literarische, unterhaltende,
fiktive Texte auf Romane und Bücher zu reduzieren, ist ein
Wahrnehmungsfehler. So hat das in den vergangenen Jahrzehnten
funktioniert, weil es für Verlage, Buchhändler und alle anderen
Beteiligten am einfachsten war, zweimal im Jahr eine kleine Auswahl
Romane als gebundenes Buch für knapp 20 Euro zu verkaufen.

Das war nicht immer so: Autoren wie Nikolai Gogol, Guy de
Maupassant, Edgar Allan Poe und Anton Tschechow waren berühmt für ihre
Kurzgeschichten und Erzählungen. Und die sind zuerst oft in
Zeitschriften und Zeitungen erschienen – als kurze, schnelle,
unterhaltende Lektüre für einen Abend.

Lustlose Leser

Wie man solche kurzen Stücke ohne Zeitschrift drumherum in
Buchhandlungen verkaufen kann, hat kein Verlag ausgeknobelt. Warum auch
– dicke, teure Bücher als Geschäftsmodell liefen und laufen wunderbar.
Der Umsatz pro verkaufter Einheit ist wunderbar hoch (im Vergleich zu
Magazinen zumindest), eine überschaubare Menge an Romanen und
dazugehörender Autoren ist leichter zu vermarkten als eine Flut an
Kurzgeschichten. Die sind heute etwas für obskure literarische
Zeitschriften und Sammelbände mit knapp vierstelliger Auflage.

Warum eigentlich? Jahr für Jahr beklagen Verleger, Buchhändler und
Kulturverwalter, dass "Jugendliche und Erwachsene in Deutschland" die
"Lust am Lesen" verlieren – fassten im Dezember Zeitungen eine Studie
der Mainzer Stiftung Lesen zusammen. Die Umfrage der Forscher hatte
ergeben, dass 2000 noch fast jeder dritte Bundesbürger zwischen 11 und
50 Bücher im Jahr las, 2008 aber nur noch jeder vierte. Der
Börsenverein des Deutschen Buchhandels interpretiert seine Studie
"Leser und Buchkäufer 2008" ganz ähnlich. Die Verbandszeitschrift
"Börsenblatt" schrieb, die "Leseintensität" habe abgenommen, weil 43
Prozent der Befragten angegeben haben, weniger als neun Bücher im
vergangen Jahr gelesen zu haben.

Das hat viele Gründe, aber über einen ist bislang erstaunlich wenig
diskutiert worden. Ganz marktwirtschaftlich formuliert: Könnte es sein,
dass man mit einem anderen Produkt als dem Buch neue Käufergruppen für
Literatur gewinnen könnte?

Keine Ahnung, ob ein Fortsetzungsroman mit Episoden zu 99 Cent in
Amazons Text-iTunes funktionieren kann. Vielleicht nicht. Vielleicht
hat so etwas zurecht zuletzt Charles Dickens im 19. Jahrhundert in
Tageszeitungen veröffentlicht. Aber wer weiß es – auf einem
Vertriebsweg wie Amazons Kindle hat das ja noch niemand versucht.

Eilige Bücher für eine eilige Zeit?

Denn leider denken alle in Büchern, wenn es um das Kindle und
Download-Shops für Literatur geht. Dabei könnte die Kurzgeschichte als
99-Cent-Download ganz neue Fans finden. Hier könnte man Texte
verkaufen, die es nie in eine Buchhandlung schaffen würden. Und wenn
doch, dann nur gut getarnt in einem Sammelband: Erzählungen,
literarische Reportagen, Glossen, Essays, Kurzgeschichten. Und warum
eigentlich nicht auch Fortsetzungsromane oder Heftchengeschichten wie
Perry Rhodan?

Der Online-Vertrieb solcher Kurztexte könnte eine ganz neue Vermarktung
ermöglichen – Empfehlungslisten, Facebook-Anwendungen, RSS-Feeds statt
Verlagsvertretern und gedruckten Halbjahreskatalogen. Und der Freundin
mischt man dann neben dem Mixtape noch eine Kurzgeschichtensammlung.

Ob das als Produkt funktioniert, weiß niemand. Und das wird auch
nie jemand erfahren, solange Verlage online ausschließlich in
buchhandelskompatiblen Textformen denken.


Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
Immer gut: Newsletter abonnieren


auch interessant

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Der common senf aktueller Debatten um Staatsausgaben, Tarifverhandlungen und Zinspolitik scheint mir gerade ein gefährlicher: Alle sollen sparen. Der Staat soll weniger ausgeben und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Arbeitnehmer sollen Reallohnverluste akzeptieren, sparen und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Und Unternehmen sollen sparen, bloß keine Kredite aufnehmen für Investitionen

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Paradox der Gegenwart

Einerseits sehen so viele Menschen ihre individuellen (Konsum)Bedürfnisse als das wichtigste Gut, als absolut schützenswert. Überspitzte Maxime: Was ich will, ist heilig – alles geht vom Individuum aus. Andererseits erscheint genauso viele Menschen das Individuum ganz klein, wenn es darum geht, etwas zu verändern in der Welt. Überspitzte Maxime: Ich

Paradox der Gegenwart

Wie Schmecken funktioniert

Gelernt: Geschmack und Aroma sind zwei ganz unterschiedliche Wahrnehmungen. Für jede ist ein anderer Teil im Gehirn verantwortlich. Und jede basiert auf unterschiedlichen Daten: Für den Geschmack kommen Eindrücke von der Zunge, fürs Aroma von Rezeptoren in der Nase. Beides vermischt das Gehirn zum Gesamteindruck Schmecken. Sehr lesenswerter Aufsatz darüber

Wie Schmecken funktioniert