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Ein Jahr iPad: So sähe die ideale Tablet-Zeitung aus (Spiegel Online, 2.3.2011)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Ein Jahr iPad

So sähe die ideale Tablet-Zeitung aus

Experiment vertagt: Die iPad-Ausgaben der großen Zeitungen sind nach einem Jahr noch immer vom Web abgegrenzte Text-Silos. Statt Möglichkeiten zu nutzen, drücken die Verlage das alte Abo-Modell in einen neuen Vertriebsweg. Dabei böte die Kombination von Web, Print und Tablet solche Chancen.

Spiegel Online, 2.3.2011

{jumi [*3]}

Gut 15 Millionen iPads hat Apple weltweit verkauft, nun stellt der Konzern am 2. März wohl das nächste Modell vor. Seit knapp einem Jahr experimentieren Medienhäuser weltweit mit diesem neuen Vertriebsweg, in der Hoffnung, dass das gute alte Abo-Modell nun auch digital funktioniert. Und leider, das muss man so pauschal und unfair einmal sagen, ist die Tablet-Zeitung nach einem Jahr noch in einem ganz, ganz frühen Beta-Stadium – wirtschaftlich, vor allem aber konzeptionell.

Wie würde meine Traum-Tageszeitung auf dem iPad aussehen?

Für den Preis eines normalen Papierabos kann ich jeden Tag die komplette Zeitung im Web-Browser, in der iPad-Anwendung und auf einem Android-Telefon lesen. Morgens in der U-Bahn markiere ich die wichtigsten Artikel und die interessantesten Passagen der Stücke, die ich gelesen habe. Im Büro rufe ich die Webseite der Zeitung auf, logge mich ein und sehe sofort in einer Liste diese Vorauswahl, um zwischendurch noch einmal ein, zwei Texte zu lesen, die morgens markierten Passagen sofort wiederzufinden und schnell zitieren zu können.

Am Nachmittag stehen einige schnelle Analysen der Kolumnisten meiner Ideal-Tageszeitung zu den Themen des Tages schon im Web – ich muss als Abonnent nicht auf die gedruckte Ausgabe am nächsten Morgen warten. Wenn die Texte zu lang, zu differenziert und zu interessant fürs Überfliegen am Arbeitsplatzrechner sind, kommen sie auf meine Leseliste, am Abend auf dem Sofa lese ich das dann in aller Ruhe auf dem iPad.

Bitte keine gedruckten Nachrichten vom Vortag

Eine Papier-Ausgabe hätte ich auch gerne, aber nur zwei- oder dreimal in der Woche. Am Freitag, am Samstag und vielleicht am Montag. Auf diesen – wenigen – wunderschön gestalteten Seiten stehen die einzigartigen Geschichten, die Essays, die Reportagen, die großen Interviews, für die ich heute überhaupt nur noch Zeitungen kaufe. Geschichten, wie sie in der Samstagbeilage “FT Weekend” stehen, in “Bilder und Zeiten” der “FAZ” oder ab und an auf der Seite Drei der “Süddeutschen”.

Das Internet, das iPad und all die anderen Tablets sind eine Chance für die dringend nötige Neuerfindung der Tageszeitung. Das alte Format Tageszeitung braucht ein radikal neues Abo- und Nutzungskonzept, weil es sich von Jahr zu Jahr etwas weniger lohnt, jeden Tag eine Menge Papier mit den Nachrichten des Vortags zu bedrucken und durchs Land zu karren. Die Tageszeitung ist immer noch eine Mischung aus Nachrichten von gestern, Analysen, die im besten Fall auch nach zwei, drei Tage noch interessant sind und den wenigen Artikeln, die man sich aufhebt, um sie Tage später zu lesen. Diese Mischung gewinnt nicht an Attraktivität und Relevanz, wenn man sie als E-Paper einmal am Tag digital zum Abonnenten schickt.

Die Nebeneinanderher-Gestaltung strikt getrennter Web-, Tablet- und Print-Ausgaben der meisten Tageszeitungen erweckt den Eindruck, dass ihre Kunden entweder das Internet oder das iPad oder Papierausgaben nutzen. Für alle drei, manchmal auch nur für zwei dieser Zielgruppen bieten Verlage spezielle Produkte. Die Realität sieht aber bei den meisten Kunden und vor allem bei den potentiellen Kunden ganz anders aus: Sie lesen im Büro im Web, auf dem Sofa in der Papier- oder iPad-Ausgabe und in der U-Bahn vielleicht auf dem Smartphone. Die ideale Tageszeitung würde diese Menschen von morgens bis abends begleiten, über all diese Kanäle hinweg.

Tablet-Medien als Abendkonkurrenz fürs Fernsehen

Meine ideale Tageszeitung ist das intelligent komponierte Gesamtpaket aus den Inhalten im Netz, auf Papier und den Apps für iPad, Android-Tablet und all die anderen Geräte. Die ganzen Aktualia lässt man weg und liefert die den Abonnenten im Netz, in Apps – und zwar in überall gleich hoher Qualität, mit einer einheitlichen Benutzerführung und simplen Preisgestaltung. Mit so einem Tablet-, Web- und Print-Abo könnte man die Leser den ganzen Tag über erreichen – bis in den Abend hinein. Wenn die Menschen auf dem Sofa statt fernzusehen mit ihrem Tablet das nachlesen und -sehen, was immer sie tagsüber im Büro als interessant, aber zu lang für zwischendurch markiert haben, dann macht die Tageszeitung plötzlich dem Fernsehen Konkurrenz, gewinnt neue Relevanz und vielleicht auch ein paar ganz neue Werbekunden.

Nach einem guten Jahr iPad und vielen App-Experimenten großer Tageszeitungen sieht die Realität ganz anders aus. Es beginnt schon bei den Abo-Angeboten: Versuchen Sie einmal, die “Financial Times” oder die “Neue Zürcher Zeitung” am Freitag und Samstag als Papierausgabe und an den anderen Tagen digital zu abonnieren. Geht nicht. Das E-Paper der “FAZ” kann man gar nicht auf dem iPad lesen, das der “NZZ” schon, allerdings muss man auf diese Digitalausgabe fast so lange wie auf die gedruckte Version warten – bis 6:30 Uhr morgens.

Ein Universal-Abo, das die Webseite, die Tablet-Anwendung und ein paar Papierausgaben in der Woche umfasst, machen Apples neue Regeln zum Bezahlverfahren natürlich sehr, sehr kostspielig für die Verlage. Nach den neuen Regeln müssten sie für jedes über das iPad abgeschlossen Abo 30 Prozent aller Einnahmen an Apple abgeben.

Papier lässt sich komfortabler archivieren als Tablet-Zeitungen

Das Konzept der iPad-Zeitung ist auch nach einem Jahr Experimentierphase dasselbe: eigenständige, von den Papier- und Onlineangeboten der Marken klar abgegrenzte Produkte.

Warum ist es beispielsweise in Tablet-Ausgaben unmöglich, Passagen in Artikeln so einfach anzustreichen, wie man es vom Uralt-Medium Papier kennt, und die Texte zu archivieren, mit Notizen und Schlagworten vielleicht? So wie man es noch viel komfortabler im freien Netz mit Diensten wie Diigo oder Evernote tun kann?

Einige netzaffine Nutzer zahlen für den Zugang zu Digitalem

Für geräteunabhängige Universal-Dienste bezahlen sogar sehr netzaffine Menschen Abogebühren, das zeigt ausgerechnet ein junger Wachstumsmarkt der Musikindustrie: Dienste wie Spotify, MOG, Rdio oder Rhapsody schaffen es, eine – wirtschaftlich relevante – Minderheit ihrer Nutzer als zahlende Abonnementen zu gewinnen. Nun gibt es natürlich Musik überall kostenlos im Netz, aber bei den Anbietern siegt der Komfort: Wer zahlt, kann an jedem Computer übers Netz, unterwegs mit allen erdenklichen Mobiltelefonen und zu Hause mit einem Klick Musik hören.

Und zwar Musik aus einer individualisierten Sammlung: All diese Streamingdienste zeichnet der nahtlose Übergang zwischen Web, Mobil-Anwendung und Desktop-App aus. Markiert man einen Song beim Hören unterwegs am iPhone als großartig und wiederhörenswert, taucht diese Einschätzung sofort in allen anderen Anwendungen auch auf.

Einige Nutzer zahlen eben doch für den Zugang zu Digitalem – er muss nur komfortabel genug sein. Und den bietet eine Tablet-Zeitung mit Sicherheit nicht, solange man sich interessante Artikel zum Markieren und Archivieren per E-Mail an die eigene Adresse senden muss, um sie später am Rechner noch einmal im Webbrowser zu öffnen.

Solange die Benutzerführung so mies, die Grenzen zwischen den Tablet-, Netz- und Papierausgaben so groß, die Abopreise für Digitales so unübersichtlich wie hoch sind, bleibt die Tablet-Zeitung eine digitalisierte Papierausgabe – nur, dass man sie weder zusammenfalten noch etwas in ihr unterstreichen kann.

{jumi [*5]}

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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