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Ein Netz in allen Dingen (Süddeutsche Zeitung, 26.3.2001)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

Ein Netz in allen Dingen

Das Internet ist am Ende – es lebe das Evernet

Süddeutsche Zeitung, 26.3.2001

Die Menschheit hat einfach nicht verstanden, wie toll das Bestellen von Turnschuhen im Internet ist. Unberührt geht die Mehrheit weiterhin ins Einkaufszentrum statt ins Netz, und so machte im Herbst vergangenen Jahres das Internet-Kaufhaus Boo.com pleite. Was nur der Anfang war. Heute dürfte jedem der verbliebenen Cebit-Aussteller klar sein: Die meisten Menschen sind einfach zu faul, sich ins Netz einzuwählen. Warum also nicht einfach das Netz um diese widerborstigen Leute spinnen?

Tatsächlich gilt diese Vision im Silicon Valley als „the next big thing“: „Das ganz große Geld liegt noch vor uns“, verkündet das Fachmagazin RedHerring, während die Pleitewelle einen weiteren Höchststand erreicht. Der New Yorker prophezeit: „Das Netz, wie es zwischen 1994 und 2001 existierte, wird der Zukunft kaum effektiver erscheinen als eine Schnur zwischen zwei Blechdosen.“ Der Name für das neue Datennetz verrät, welcher Einfluss beansprucht wird: Evernet. Immer, ständig, unaufhörlich. Das Netz lässt uns nie wieder frei, auf ewig online, an jedem Ort der Welt.

Und niemand wird verschont bleiben. Selbst der größte Verächter des Computers wacht eines Tages auf und merkt, dass sich das Evernet längst tief in sein Leben eingesponnen hat. Die Vision erinnert an die Borg in Star Trek, die jede Zivilisation auf ihrem Expansionsfeldzug, statt sie zu vernichten mittels in den Körper implantierter Technologie, in ein riesiges Netzwerk einbinden. Heute schon wird es auf der Cebit immer schwerer, Dinge zu entdecken, die rechteckig und beige wie ein ordentlicher Computer aussehen. Das ist der Trick: Die Träger, die das Evernet in unser Leben einschmuggeln sollen, sind nur schwer als solche auszumachen. Der Entwicklungschef von Sun Microsystems, Greg Papadopoulos, sieht die Abfolge der Netzgenerationen so: Heute das „Internet der Computer“, die nächsten fünf Jahre das „Internet der Dinge, in denen Computer stecken“ und dann das „Internet der Dinge“. Damit meint er „Wandfarben, Türklinken und Glühbirnen als Gemeinschaft sich selbst organisierender Objekte“. Ein Netzwerk, das nicht die Wirklichkeit abstrahiert und simuliert, sondern sie sich schlicht einverleibt und verändert. Die Türklinke misst eine erhöhte Körpertemperatur, also werden die Wände angenehm dunkelblau und kühl. Alle Dinge reden miteinander, und der Mensch wird nur selten gefragt. Das Evernet soll als Reaktion auf das Bedürfnis, Zugriff auf immer mehr Information zu haben, den Menschen ausweiten. So wie Marshall McLuhan das Rad als Reaktion auf steigende Mobilitätsansprüche erkannte.

Der PC stirbt gerade. Mit seinem Tod kommt das Evernet. Das sehen heute nicht nur sehr kleine, sehr visionäre und sehr risikofreudige Unternehmen so, sondern auch etablierte Konzerne. Man muss sich nur anschauen, was Intel und Microsoft auf der Cebit präsentieren. Als Kern der neuen Strategie seines Unternehmens hat Intel-Präsident Craig Barnett Anfang des Jahres den so genannten „Extended PC“ bezeichnet. Der soll alle irgendwie elektronischen Dinge im Haushalt über ein drahtloses Funknetz verknüpfen. Übers schnurlose Telefon greift man auf das Telefonverzeichnis der Hausdatenbank zurück. Ist zu einem genannten Namen keine Nummer gespeichert, sucht der erweiterte PC sich die im Internet. Was der Nutzer gar nicht zu bemerken braucht. Zu sehen kriegt er den Rechner nicht. Er weiß nicht einmal, woher die Daten kommen.

Das wäre tatsächlich eine Revolution. Denn selbst im Internet gibt es immer noch Orte. Die vertraute Heimat ist der heimische Computer, mit den eigenen, nach persönlichen Bedürfnissen gespeicherten und strukturierten Daten und Programmen. Die scharfe Trennung zwischen offline und online bewahrt ein letztes Gefühl von Heimat. Sie wird mit dem Evernet verschwinden. Microsoft etwa stellt seine neue .NET-Strategie auf die Prämisse eines fortwährend ans Netz angeschlossenen Rechners. Ständig werden neue Programmbausteine aus dem Netz geladen und alte entfernt. So hat der Nutzer ein System, das sich mit seinen Bedürfnissen entwickelt. Doch eines geht verloren, nämlich das Gefühl, mit dem eigenen Programm zu arbeiten. Was eigentlich selbstverständlich sein sollte, muss das Evernet noch einmal vor Augen führen: Nullen und Einsen kennen keine Heimat und keine Bindung.

Visionär und doch etwas anachronistisch wirken da die Ideen amerikanischer Militärstrategen, das Evernet als ein Territorium zu verteidigen. Die US-Regierung plant kräftige Budgetsteigerungen beim „Federal Intrusion Detection Network“, um ein Äquivalent für das NMD-Programm im Netzraum zu schaffen. Thomas Barrnett, Stratege am U.S. Naval Institute geht weiter: Die US-Verteidigung soll in zwei neue Organisationen aufgespalten werden. Das „Department of Global Deterrance“ für die herkömmliche Kriegsführung und das „Department of Network Security“ (DNS) zur Verteidigung des Evernet. Es scheint, als solle hier ein Ort erzwungen werden. Schon bei kleinen Gedankenspielen fällt die Absurdität auf, amerikanische von ausländischen Daten zu unterscheiden. Wenn etwa das DNS die Microsoft-Server in Redmond verteidigt, schützt es zugleich die Sicherheit von Betriebsystemen, die hier ihre Komponenten herunterladen, weltweit. Vielleicht sogar in Schurkenstaaten, sofern Microsofts Standardprogramme nicht von einem Embargo betroffen sind.

Es fällt schwer, sich etwas wie das Evernet vorzustellen. Was könnten ständig und überall verfügbare Informationen für eine Bewusstseinsänderung bedeuten? Man darf sich jetzt nicht die Schnittstelle zwischen Mensch und Evernet als etwas derart Klobiges wie einen Computer vorstellen. Eher als etwas Unaufdringliches wie den Babelfisch, einen Universalübersetzer, der in Douglas Adams’ Romanen alle Menschen einander verstehen lässt, indem sie ihn sich einfach ins Ohr stecken. Probleme mit einer präzisen Vorstellung hat man gerade in Deutschland. Aus einem einfach Grund: Hierzulande gibt es kaum schnelle, pauschal bezahlte Internetzugänge für private Kunden. In den Vereinigten Staaten bietet das Unternehmen Ricochet längst in Ballungszentren einen schnellen, drahtlosen, pauschal bezahlten Netzzugang mit doppelter ISDN- Geschwindigkeit an. Die Daten werden von Sender-Empfängern auf Straßenlaternen im Abstand von knapp einem halben Kilometer übertragen. Was bedeutet, dass man überall und ständig online sein kann.

Nicht ohne Grund lässt die Totalität des Evernet an Orwellsche Horrorszenarien denken. Aber es gibt heute schon Beispiele, die zu einer anderen Sichtweise zwingen. So ermöglicht in London ein kleines Evernet einem Stadtteil den Zugang zum Netz ohne soziale Hierarchien. Die Initiative Consume.net des Netzaktivisten James Stevens bietet allen Bewohnern einen kostenlosen und schnellen Netzzugang. Kostenlos, weil die letzte Meile vom Netz zum Benutzer nicht mit den Kabeln der Telefongesellschaften überbrückt wird, sondern über einen unlizensiert Bereich des Funkspektrums. Der Netzzugang ist meist eine Breitbandanbindung von Unternehmen, die über Funk von jedermann benutzt werden kann. Das ganze funktioniert nach dem Sankt- Martins-Prinzip des Teilens: Die Unternehmen stellen ihre Breitbandanbindung ohne Gegenleistung zur Verfügung.

Wie schwer das Wesen eines immer vorhandenen Netzes zu fassen ist, sieht man auch am Metaphernmangel. Schon der „Datenhighway“ als Bezeichnung für das Internet war lächerlich. Das Netz hat weder zwei Fahrtrichtungen noch ist es überall so gut ausgebaut wie eine staatliche Autobahn. Man könnte es ein Gewimmel von Pfaden, Wegen und Straßen nennen – wäre nicht die auch hier assoziierte Linearität völlig unzutreffend. Beim Evernet sind die Metaphern nun am Ende. Nennen wir es einfach: Welt.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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