Eine Reise über den Mond hinaus (Der Standard, 15./16.12.2001)
Eine Reise über den Mond hinaus
Illusion hat es im Kino immer schon gegeben. Doch der Film „Der Herr der Ringe“ will mehr, wie schon Tolkiens Buch: Welten schaffen
Der Standard, 15./16.12.2001
Es war 1927, da sagte der Entertainer Al Jolson jenen Satz, mit dem die Ära des Tonfilms begann. Jolson muss in dem Film „The Jazz Singer“ viele Widrigkeiten überwinden, um endlich ein Sänger sein zu dürfen. Und dann steht er auf der Bühne, kurz davor, seinen Hit „Toot, Toot, Tootsie, Goodbye“ zu singen, doch der laute Applaus lässt ihn einige Zeit gar nicht erst ansetzen. Bis Jolson dann sagt: „You ain’t heard nothing yet!” Ein großer Moment, der nicht kleiner dadurch wird, dass man schon Mitte der zwanziger Jahre Ton synchron zum Bild von Schallplatten abspielte. Jolson hat ein so selbstverständliches, berührendes und elegantes Ende für die Ära des Stummfilms geschaffen, wie es das Kino verlangt. Ein solcher Moment ist der höchste Anspruch, den man an Peter Jacksons Verfilmung von J.R.R. Tolkiens Roman „Der Herr der Ringe“ richten muss.
Denn dass zur Zeit eine neue Ära des Films anbricht, steht außer Frage. Es fehlt nur ein solcher Moment, wie Jolson ihn schuf, um das im allgemeinen Bewusstsein des Publikums Wirklichkeit werden zu lassen, was George Lucas seit Jahren verkündet. Vor zwei Jahren, zum Start von „Star Wars Episode I“ sagte er dem japanischen Magazin „Cut“: „Ich habe auf die Technologie gewartet, mit der ich meine Vorstellungen realisieren kann.“ Ganz ähnlich klingt, was Peter Jackson über seine Verfilmung von „Der Herr der Ringe“ sagt: „Die Technologie hat jetzt die unglaubliche Phantasie eingeholt, die Tolkien in diese Geschichte gesteckt hat. Deshalb ist jetzt die Zeit gekommen.“
Das Besondere an „Der Herr der Ringe“ ist nicht der technische Aufwand an sich. Filme wurden schon zuvor nach der Zahl verwendeter Hochleistungsrechner und nach der Größe der Datenmengen gemessen. Was „Der Herr der Ringe“ auszeichnet, was hoffen lässt, dass dies der Beginn einer neuen Ära sein könnte, ist die verfilmte Geschichte. Bei der Wiederveröffentlichung der digital nachbearbeiteten ersten „Star Wars“ Trilogie sah man, dass die Bilder sich jenen angenähert hatten, die George Lucas seit vielleicht 20 Jahren im Kopf hatte. Bei „Der Herr der Ringe“ aber müssen nun die Bilder einer seit Jahrzehnten wachsenden kollektiven Vorstellung von Mittelerde auf die Leinwand projiziert werden, nicht aus dem Kopf des Regisseurs, sondern direkt aus dem Unterbewusstsein der Zuschauer.
Liest man Tolkiens Roman, drängt sich der Gedanke geradezu auf, er habe darin die vielleicht erste virtuelle Welt geschafften. Und eben diese Erfahrung soll die neue Ära des Films bieten: Welten schaffen, die auf nichts anderes mehr verweisen als auf die Wünsche der Zuschauer. Filmemacher filmen nicht mehr ab, sie machen Filme im wortwörtlichen Sinn.
Tolkiens Werk ist für diesen Versuch prädestiniert. Als er im Januar 1917 begann, während eines Genesungsurlaubs von der Front einen Ort namens Mittelerde zu skizzieren, wollte Tolkien keineswegs einen Roman schreiben, sondern Geschichte. Nämlich die mythische, längst vergessene Geschichte jener Welt, die er Mittelerde nannte. Erst der Erfolg des „Herrn der Ringe“ weckte Interesse an Tolkiens Weltschöpfung. Aber eben diese Schöpfung hat den Erfolg von „Der Herr der Ringe“ ermöglicht.
Der Sprachwissenschaftler Tolkien – die längste Zeit seiner akademischen Laufbahn Professor für englische Sprache und Literatur in Oxford – entwickelte zunächst die Sprachen seiner Welt, bevor er an die Geschichten dachte: „Bei mir kommt zuerst ein Name und dann folgt die Geschichte“, schrieb er einmal. Zwischen den Sprachen und den Geschichten steht bei Tolkien der Mythos. Tolkien glaubte, der Mythos ermögliche es dem Menschen, in einem gewissen Sinn zum Weltenschöpfer zu werden. Er schrieb, nur indem er Mythen schaffe, indem er „nach-schöpferisch“ tätig werde, könne der Mensch „sich dem Stand der Vollkommenheit nähern, den er vor dem Sündenfall gekannt hat.“
Tolkien wollte nach-schöpferisch den Menschen eine verschollene Welt wiedergeben. Das hat sein Werk so erfolgreich gemacht. Als gläubiger Katholik bedauerte Tolkien, dass dem zwanzigsten Jahrhundert ein kollektiver Glaube, zumindest ein Weltbild des kleinsten gemeinsamen Nenners fehlte. Warum also nicht etwas Neues konstruieren? Wenn schon keine Übereinkunft über diese Welt möglich ist, dann vielleicht doch die über eine andere?
Tolkien hat sich so weit es geht, als Autor aus dieser Welt zurückgezogen. In der ersten Ausgabe von „Der kleine Hobbit“ fanden sich noch zahlreiche Bemerkungen eines belehrenden Autors an seine Leser. Tolkien hat später versucht, all das zu streichen, den Autor angesichts seines Werkes schweigen zu lassen und es den Lesern zu überlassen. Er lehnte jede biographische und allegorische Interpretation seines Werkes ab. Dadurch ist ihm Außerordentliches gelungen: Mittelerde existiert tatsächlich. Mittelerde, das sind wir, die wir es denken. Der Autor verschwindet und wir sind allein mit einer Welt, die wir zur Existenz bringen müssen.
Dieses Konzept Tolkiens erinnert sehr an das Gefühl, das sich beim Betrachten von George Lucas „Star Wars Episode I“ einstellt: Die Dramaturgie scheint oft dem Hauptanliegen untergeordnet, den Zuschauer an möglichst viele Orte des fernen Universums zu führen und ihn diese ausgiebig betrachten zu lassen.
Das Sehen ist natürlich immer schon ein konstitutives Merkmal des Films gewesen. Nur ist das Sehen bei Filmen wie „Der Herr der Ringe“ ein neues. Diese Filme bilden nicht ab, sie erschaffen Bilderwelten. Widerspricht das nicht dem Wesen des Films? Ja und nein. Folgt man dem ungarischen Filmtheoretiker Béla Balázs, ist „Der Herr der Ringe“ gewiss kein Film mehr im eigentlichen Sinn. Balázs stellte in seinem 1924 erschienenen Werk „Der sichtbare Mensch“ die These auf, dass die zentrale Eigenschaft des Stummfilms die Möglichkeit sei, den Menschen neu zu entdecken. Man könne durch den Film ganz neuen Formen der Wahrnehmung erleben, welche die Schrift als dominierendes Medium seither verhindert habe. Denn in der Großaufnahme des Stummfilms seien auch die zartesten emotionalen und psychischen Reflexe zu erkennen.
Dieser dokumentarische Stil gehörte von Anfang an zum Film. Die Brüder Louis und Auguste Lumière zeigten Ende des 19. Jahrhunderts Kurzfilmreihen, deren Helden Arbeiter waren, die aus Fabrik gingen, Wellen, die an der Küste brandeten, Gärtner, die Rasenflächen gossen und Postzüge, die in Bahnhöfe einfuhren.
Balázs Definition einer visuellen Kultur konnte man lange Zeit getrost auf den Film anwenden. Technische Entwicklungen waren vor allem darauf ausgerichtet, die Realität noch perfekter zu reproduzieren. Die von Warner Brothers Mitte der zwanziger Jahre erstmals vorgestellten Tonfilme brachten die Wahrnehmung des Kinopublikums näher an die Bandbreite alltäglicher Sinneswahrnehmung, nur eben in einer weit höheren Intensität. Ähnliches leistete dann auch das 1933 von Technicolor vorgestellte Dreifarbsystem.
Doch es gab von Anfang an nicht nur Filme, welche im dokumentarischen Stil Bilder für die Wirklichkeit suchten. Schon in der Frühzeit des Films war zu beobachten, wie technische Aufrüstung nicht primär der Abbildung, sondern eher dem Schaffen gänzlich neuer Bilder diente.
Insofern sind Filme wie „Der Herr der Ringe“ nicht unbedingt ein Epochenbruch, sondern eher der vorläufige Sieg einer Entwicklungslinie des Kinos über eine andere. Vor mehr als einem Jahrhundert, gleichzeitig mit den Lumières, begann der französische Illusionist Georges Méliès Filme zu machen. Sie schufen nicht bekannte Wirklichkeit neu, sondern lieferten Bilder für unsichtbare Ideen, Wünsche und Begierden. 1902 zeigte Méliès seinem Publikum zum Beispiel den bekannten Kurfilm „Eine Reise zum Mond“. Er fand zahlreiche Wege, mit der Filmkamera Bilder zu produzieren statt nur einzufangen. Zum Beispiel hielt er die Kamera beim Filmen einer Einstellung an, entfernte einen Gegenstand, und drehte weiter – die Zuschauer sahen dann, wie Dinge sich in Luft auflösten. Méliès hat auch mit Doppelbelichtungen und Überblendungen experimentiert, frühe Beispiele für das Produzieren vollkommen neuer Bilder.
Technologie wurde von der Filmindustrie dann bald nicht mit mehr dazu entwickelt, den Zuschauer besser sehen zu lassen, sondern nur noch dazu, ihm Dinge vor Augen zu führen, die außerhalb des Kinos unsichtbar blieben. Als in den fünfziger Jahren mehr Farb- als Schwarzweißfilme produziert wurden, verwendeten vor allem jene Regisseure die alte Technologie, die sich einem gewissen Realismus verpflichtet fühlten. Delbert Mann zum Beispiel, der 1955 seinen Film über Sehnsüchte eines kleinen Metzgers „Marty“ in Schwarzweiß drehte, ebenso wie Otto Preminger, der in „The Man with the Golden Arm“ von der Rückkehr eines Heroinabhängigen aus dem Gefängnis ins Leben erzählt.
Filmtechnologie ist längst ausschließlich dazu da, Filmwirklichkeiten produzieren. Bei diesem Vorhaben konkurriert der Film nun mit einem jüngeren Medium, dem Computerspiel. Es ist kein Zufall, dass George Lucas seine Brutstätte des digitalen Films „Industrial Light & Magic“ nicht in Hollywood, sondern in der Nähe des Silicon Valley errichtet hat. Die Computerdichte auf dem tausend Hektar großen ILM-Gelände in Nordkalifornien wird wohl nur von der NASA übertroffen. Es ist auch kein Zufall, dass George Lucas schon Anfang der achtziger Jahre begann, Computerspiele zu produzieren. Für seinen Spielehersteller „Lucas Arts“ arbeiteten und arbeiten viele Menschen aus der Filmbranche. Hal Barwood zum Beispiel, der für Steven Spielbergs Roadmovie „The Sugerland Express“ das Drehbuch schrieb und bei „Lucas Arts“ die Produktion von Spielen wie „Rebel Assault 2“ leitete.
Die Computerspielindustrie setzt Technik genauso ein, wie es ein Teil der Filmindustrie spätestens seit George Lucas tut. Da werden Welten aus Polygonen, Pixeln und Voxeln gebaut. Je mehr davon in einem Bild stecken, desto heimischer kann man sich in den Spielwelten fühlen. Dieser Technologiefetischismus erinnert sehr an die aufaddierten Rechenzeiten, mit denen Filme wie „Der Sturm“ oder „Armageddon“ konkurrieren.
Doch scheint die Filmindustrie den technischen Rüstungswettlauf mit den Computerspielproduzenten zu verlieren. In Spielen gelten längst die Gesetze der Physik, eigene Subprogramme garantieren zum Beispiel die realitätsnahe Wirkung der Schwerkraft. Sie werden mit aberwitzigen Methoden getestet: Was geschieht, wenn ein kleiner und ein großer Würfel in eine Spalte mit aufeinander zulaufenden Wänden fallen? Wie verhält sich ein fünf Kilo schwerer Würfel, wenn er auf einen 5000 Kilo schweren prallt? Da sieht sogar „Star Wars: Episode I“ alt aus. Schon zu Beginn des Films fällt zum Beispiel ein Kampfdroide vor dem Palast auf Naboo auf, der anders als sein gesamtes Umfeld keinen Schatten wirft. Den hat wohl ein Tricktechniker vergessen einzufügen.
Ist der Film also längst überholt? Wird die Ära, deren Anfang der „Herr der Ringe“ sein könnte gar nicht mehr im Kino stattfinden? Man weiß es nicht. Aber es steht fest, dass Spiel und eine bestimmte Art des Films sich immer näher kommen. Das Effektstudio „Weta“, das für die digitale Bearbeitung von „Der Herr der Ringe“ zuständig ist, schickt längst Modelle, Texturen und andere Daten an den Spielehersteller Electronic Arts, der ein Spiel zum zweiten „Der Herr der Ringe“ Film entwickelt.
Es spricht viel dafür, dass der „Herr der Ringe“ jene Mischung zwischen der dokumentarischen und der illusionistischen Tradition des Films, die den erzählenden Film auszeichnete, zu einer neuen Form der Wirklichkeitsproduktion ausbalancieren wird. Peter Jacksons Anspruch ist klar: Mittelerde aus den Köpfen seiner Zuschauer auf die Leinwand zu projizieren. Es geht ihm da wie Tolkien damals 1917. Beide wollen nach-schöpferisch eine neue, eine bessere, eine echtere Wirklichkeit produzieren.