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Eskapismus revisited (Frankfurter Rundschau, 6.7.2001)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

Eskapismus revisited

Über Fiktion und Realität im Online-Rollenspiel

Frankfurter Rundschau, 6.7.2001

Fünf Männer sprangen aus der schwarzen Limousine und stürmten in das Internetcafe in Seoul. "Ist der Magier hier", rief einer. Er meinte den Spieler, der vor kurzem im Online-Rollenspiel Lineage: The Blood Pledge seinen Spielcharakter getötet hatte. Stolz bekannte der 21-jährige Paek Jung Yul sich zu seiner Tat. Dann schleiften ihn die Männer in die Toilette des Cafés und schlugen ihn dort zusammen.

Mit dieser Gruselgeschichte beginnt das amerikanische Magazin Time einen Artikel über Lineage, das zur Zeit wohl weltweit erfolgreichste Online-Rollenspiel. Zwei Millionen Spieler in Korea, Hongkong, Japan und Taiwan haben es abonniert. Vergleichbare Angebote in den Vereinigten Staaten und Europa haben weit weniger Nutzer: Die größten Spiele, Ultima Online, Asheron's Call und Everquest, kommen zusammen auf etwas mehr als 700 000 Spieler.

Die jetzt in den Vereinigten Staaten startende Version von Lineage hat nun eine Diskussion über Realität in Online-Spielen angestoßen, der sich wie der exemplarische Auftakt in Time in altbekannten Bahnen bewegt. Schon vor einem Jahrzehnt wurde mit demselben naiven Verständnis von Wirklichkeit die sogenannte "virtuelle Realität" diskutiert.

Bei der Kritik klingt immer ein unterschwelliger Rekurs auf Platons Höhlengleichnis mit: Der Spieler ist durch die Stricke des überwältigenden Sinneseindrucks gefesselt, er kann im Spiel allein verzerrte, unzulängliche Schattenbilder statt der Wirklichkeit selbst erfahren. Doch die grafischen, dreidimensionalen Welten von Ultima Online und Lineage stehen in einer ästhetischen Tradition, auf die Platons Gleichnis nicht anzuwenden ist.

Der amerikanische Wissenschaftler Lev Manovich hat jüngst in seinem Buch The Language of New Media zwei ästhetische Traditionen zur Kategorisierung – vermeintlich völlig neuer – visueller Strategien herausgearbeitet. Zum einen die Tradition der Repräsentationen, in der Gemälde, Film und Fernsehen stehen. Hier sind die Bilder extrem mobil, können in völlig unterschiedlichen Kontexten rezipiert werden. Dies wird jedoch mit der Immobilität ihrer Betrachter bezahlt. Die Repräsentation verlangt einen gefesselten Betrachter – im Kinosaal, vor dem Fernsehschirm, in der Galerie. Die Tradition der Simulation verkehrt dieses Verhältnis. Fresken und Wandgemälde sind an einen Ort gebunden, sind erst durch die Bewegung ihrer Betrachter erfahrbar. So ist es auch bei Online-Spielen, wenn der Begriff des Ortes und Körpers erweitert wird. Der Rezipient bewegt seinen Spielkörper – in Anlehnung an die Herabkunft einer Gottheit, im Hinduismus Avatar genannt – durch den Spielort, der erst durch eben diese Bewegung entsteht. Die Mobilität des Spielers ist Bedingung für die Existenz des Werkes.

Doch ist das real? Diese Fragestellung bestimmt die Rezeption neuer Online-Spiele. "Realitätsverlust gefällig?", wird ein Artikel über das neue Online-Spiel Majestic überschrieben. Dabei erzwingt gerade dieses jetzt in den Vereinigten Staaten gestartete Spiel eine neue Auseinandersetzung mit dem Realitätsbegriff.

Majestic soll sich zu anderen Online-Spielen in etwa so verhalten wie die Fernsehserie zum Kinofilm: Es ist deutlich weniger Zeit und Aufmerksamkeit nötig, um in die Spielhandlung einzusteigen. Das Ziel der Spieler ist die Aufdeckung einer großen Verschwörung. Seit Jahrzehnten werden in Konspirationstheorien mit dem Begriff Majestic geheime Weltregierungen, Nachrichtendienste oder UFO-Projekte bezeichnet.

Ähnlich wie in der Fernsehserie Akte X spaltet Majestic den Topos der allumfassenden Verschwörung in zahlreiche episodische Fragmente auf. Über Telefon, E-Mail und Fax kontaktiert das Spiel seine Spieler, man hebt ab und hört vielleicht eine Frau in Todesangst um Hilfe flehen. Dies kann ebenso wie die fingierten Internetseiten mit Informationen zu dem Spiel – zum Beispiel die der Malta UFO Research – als Eindringen des Spiels in die Wirklichkeit gewertet werden. Aber umgekehrt machen erst die zahlreichen privaten Seiten im Netz, auf denen Spieler ihre Erfahrungen und Erkenntnisse austauschen, das Spiel erst zu einem Spiel.

Ähnlich funktioniert die Marketingkampagne zu Steven Spielbergs neuem Film Artificial Intelligence. Auch hier erhalten Spieler Drohanrufe, finden im Internet Obduktionsberichte. Das ganze funktioniert allein, weil die Spieler in Diskussionsforen die Erzählung weiterspinnen. Hier wird deutlich, was in der Kommunikationswissenschaft schon ein alter Hut ist: Der Rezipient konstituiert die Botschaft mindestens ebenso sehr wie ihr Sender.

Der schlauste Satz über den Begriff der Wirklichkeit virtueller Realitäten und Spielwelten hat 1991 Neal Stephenson in seinem Roman Snow Crash geschrieben: "Real estate acumen does not always extend across universes." Wie leicht es fällt, das falsch zu verstehen: Weil der "Scharfsinn im Immobiliengeschäft" in der "realen" Welt nur zu einem schäbigen Apartment gereicht, flüchten Menschen sich in eine "nicht-reale" Welt – bei Stephenson heißt die Metaverse -, um dort in prunkvollen Anwesen zu residieren. Aber wer genau liest, bemerkt, dass Stephenson von zwei Universen spricht, ohne ein Merkmal zu deren Unterscheidung anzubieten. Scharfsinn im Immobiliengeschäft ist in beiden real, nur eben nicht immer aus dem einen in das andere zu übertragen.

Die Realität von Online-Spielen entsteht durch Kommunikation. Das zeigte sich schon bei dem ersten Spiel dieser Art, dem 1978 an der Universität Essex in Großbritannien gestarteten MUD1.

Die Spieler streiften hier als Abenteurer durch eine klassische Fantasywelt mit Drachen, Schätzen und Verliesen. Doch eine strikte Unterscheidung zwischen Spielcharakter und dem realen Spieler bestand kaum. Es war für die Avatare ebenso legitim, sich über Ärger am Arbeitsplatz des Spielers wie über das tödliche Spinnennetz an der alten Mine der MUD-Welt zu unterhalten.

Der Kern von MUD1 war das Spiel mit sozialen Rollen, nicht die Suche nach Schätzen. Männer konnten Frauen spielen, und Frauen Männer, Draufgänger konnten Intellektuelle sein, Mauerblümchen zu Helden werden. Spieler waren oft mit mehreren, grundverschiedenen Avataren zugleich im MUD1 anwesend. Die Spielwelt ermöglicht es, weit bewusster als im Alltag Rollen zu spielen und mit Rollen zu spielen. Ansonsten aber ist die Spielwirklichkeit ebenso zu definieren wie jede andere: Als das Ergebnis symbolisch vermittelter sozialer Interaktion.

Das einzige Merkmal zur Unterscheidung der Wirklichkeit eines Online-Spiels von jener der Welt ist Distanz. Jene Distanz, die durch die absolute Kontrolle des Spielers über seine sozialen Identitäten entsteht. Er kann seinen Avatar aufgeben und mittels eines anderen die Welt erfahren. Es wäre ein alter Fehler, diese besondere Distanz nun als Flucht aus der Wirklichkeit zu verstehen.

Schon Georg Simmel schrieb 1903 in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben von der positiven Distanziertheit der Großstadtmenschen zu ihrer Umwelt. Dadurch seien Individualisierungschancen und die Möglichkeit einer ästhetischen Stadterfahrung erst gegeben. Die Distanz der Online-Rollenspiele könnte in ähnlicher Weise Möglichkeiten eröffnen. Nämlich die Flucht aus dem Terror der Intimität, den der US-Soziologe Richard Sennett gegeben sieht. Die Flucht aus der ständigen Repräsentation von Nähe mittels mediatisierter, veröffentlichter Intimität, etwa in Reality-Fernsehformaten hin zu einer Simulation, in der Nähe durch die Möglichkeit von Distanz entsteht. Eskapismus revisited gewissermaßen.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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