Facebook als Lebensgeschichte: Schreibt euren eigenen Nachruf! (Spiegel Online, 22.9.2011)
Facebook als Lebensgeschichte
Schreibt euren eigenen Nachruf!
Schreibt eure Lebensgeschichte auf Facebook, verlangt Mark Zuckerberg mit seinem Relaunch. Aber wie werden diese Geschichten klingen? Nicht wie digitale Tagebücher, sondern wie geschönte Autobiografien, meint Konrad Lischka: weil hier jeder für ein Publikum schreibt.
Spiegel Online, 22.9.2011
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Die Aufzeichnung aller Jogging-Strecken, eine Liste aller Filme, die man je (bei Facebook-Partnern) gesehen, aller Songs, die man je dort gehört hat: Kann das wirklich eine Lebensgeschichte sein? Mark Zuckerberg ist dieser Ansicht. Bei der Vorstellung des neuen Facebook-Konzepts eines Lebensarchivs mit integriertem Unterhaltungsangebot sagte der Gründer des sozialen Netzwerks: “Die Facebook-Zeitleiste ist die Geschichte deines Lebens. Deine Geschichte, deine Anwendungen drücken aus, wer du bist.”
Tun sie das?
Vom Datenschutz-Problem abgesehen: Hier passiert etwas Interessantes, nicht nur auf Facebook, sondern auch bei vielen anderen Web-Diensten, die das Leben protokollieren. Sie archivieren, was wir sehen, hören, lesen, essen, wohin wir reisen und wie lange wir laufen. Ein Antrieb, diese Datenmengen anzuhäufen, ist für viele Menschen mit Sicherheit der uralte Wunsch, dass etwas von ihnen bleibt. Ein idealisiertes Archiv der digitalen Person gegen die Sterblichkeit. Ein permanenter, ständig aktualisierter Nachruf auf einen selbst, der alle dunklen Geheimnisse, alle verzweifelten Gedanken, alle privaten Peinlichkeiten fast zwangsläufig ausblendet. De mortuis nil nisi bene – über die Toten nur Gutes.
Die Frage ist: Wer ist dieses digital konservierte Ersatz-Ich, das da entsteht? Wie wird es geformt von den digitalen Werkzeugen, mit denen wir es erstellen? Und wie wirkt dieses Bild zurück auf die Selbstwahrnehmung?
Facebook räumt in seinem Formular, in dem man die eigene Lebensgeschichte einzutragen hat, dem Medienkonsum viel Raum ein – was natürlich viel mit den geschäftlichen Interessen des Konzerns zu tun hat. Der Journalist Steven Levy hat dafür den schönen Begriff der “remote-control autobiography” erfunden. Kulturpessimisten werden nun lästern, dass ein wesentlicher Teil der eigenen Lebensgeschichte offenbar daraus besteht, wie oft und mit wem man “Desperate Housewives” gesehen und was man davor gekocht hat.
“Daher sind die Waden gut, die Schenkel nicht schlecht”
Doch das unterscheidet Facebooks Lebensprotokoll zunächst kaum von älteren Werkzeugen, dem Tagebuch zum Beispiel. Andy Warhol notierte in seinem Tagebuch jede Taxifahrt, und was sie gekostet hatte. Franz Kafka protokollierte auch sportliche Aktivitäten (“Ich rudere, reite, schwimme, liege in der Sonne. Daher sind die Waden gut, die Schenkel nicht schlecht …”) und Kinobesuche:
“Im Kino gewesen. Geweint. ‘Lolotte’. Der gute Pfarrer. Das kleine Fahrrad. Die Versöhnung der Eltern. Maßlose Unterhaltung. Vorher trauriger Film ‘Das Unglück im Dock’ nachher lustiger ‘Endlich allein’. Bin ganz leer und sinnlos, die vorüberfahrende Elektrische hat mehr lebendigen Sinn.” (20.11.1913)
Kafka schrieb das für sich. Er dachte nicht an Mitleser, bemühte sich nicht um Verständlichkeit, er spekulierte nicht auf mögliche Kommentare Bekannter und hoffte nicht auf “Likes”. Nimmt man Mark Zuckerbergs Behauptung ernst, Facebook sei ein Werkzeug zum Erzählen der eigenen Lebensgeschichte, dann ist dies der fundamentale Unterschied: Erwünscht ist und belohnt wird (durch bestätigende “Likes” und Kommentare), dass jeder seine Lebensgeschichte jederzeit einem Publikum erzählt. Ohne Leser keine Autobiografie.
Wer vor Publikum erzählt, wird belohnt
Kafka blätterte auch in alten Aufzeichnungen, um sich selbst zu begegnen. “Mich ergreift das Lesen des Tagebuchs”, notierte er einmal. Er offenbarte sich vor sich selbst, zum Beispiel, als er eine “Zusammenstellung alles dessen, was für und gegen meine Heirat spricht” niederschrieb (“Ich muss viel allein sein. Was ich geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinseins”).
Kann, wer seine Lebensgeschichte in Facebook schreibt, so offen vor sich selbst sein? Es geht nicht nur darum, was man abwägt, wenn man öffentlich oder halb-öffentlich publiziert. Vielleicht verinnerlicht jemand, der mit Facebook als Schreibwerkzeug der Lebensgeschichte aufwächst, unbewusst die dort geltenden Kriterien: Lohnt es sich, etwas festzuhalten, das man mit niemandem teilen, niemandem mitteilen möchte?
Viele Spiegel für das Ich
Vielleicht setzt dieses oft anwesende und manchmal nur automatisch mitgedachte Publikum eine Schweigespirale in Gang, wie sie die Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann vor Jahrzehnten in einer Welt ohne Netz postuliert hat. Noelle-Neumanns These: Wenn Menschen bei bestimmten Fragen den Eindruck haben, dass sie mit ihrer Meinung zu einer Minderheit gehören, äußern sie diese nicht. Die Spirale kommt so in Gang: Den Eindruck, in der Minderheit zu sein, gewinnen die Menschen durch ihren Medienkonsum, wenn bestimmte Ansichten unterrepräsentiert sind. Also verschweigen sie ihre Meinung und tragen so dazu bei, dass man diese Ansichten immer seltener hört.
Andererseits kann es auch eine Bereicherung sein, sich nicht immer nur im eigenen Spiegel zu sehen, wenn man die eigene Lebensgeschichte nachliest, sondern auch Reaktionen der Freunde, der Bekannten zu lesen, die mitschreiben.
“Sie sind kein fiktiver Charakter, oder?”
Natürlich beeinflusst das Publikum, was wir letztlich in die “remote-control autobiography” schreiben würden, wenn wir denn dabei überhaupt mitmachen. Jeder entwirft in den Artikeln, die er empfiehlt, der Musik und den Filmen, die er öffentlich mag, ein Wunschbild seiner selbst. Identitätsmanagement nennen Kommunikationswissenschaftler das. Die eigene “remote-control autobiography” mit Abstand nachzulesen, kann ähnlich erhellend und ergreifend sein wie Kafkas Lektüre seiner Selbstgespräche: Zum ersten Mal kann man bei Facebook nachsehen, wer man vor zwei Jahren gerne gewesen wäre, welche Geschichten man über sich selbst geschrieben hat. Oder über sich hat schreiben lassen, von der Jogging-, der Rezepte- oder der TV-Serien-App.
Solche Erfahrungen haben bisher vor allem Dichter gemacht: Mit jedem Buch definieren sie sich als Autor neu, jedes Wort schreibt ihre Lebensgeschichte weiter. Dieses Thema beschäftigt Dichter seit Jahrhunderten. Bret Easton Ellis erzählt in “Lunar Park” von einem Schriftsteller namens Bret Easton Ellis, den die Figuren seiner Romane heimsuchen. “Sie sind kein fiktiver Charakter, oder, Mister Ellis?”, fragt ein Polizist den Protagonisten.
Diese Frage stellt sich in ein paar Jahren vielleicht jeder, der durch seine “remote-control autobiography” bei Facebook blättert.