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Fantasy-Spiele per Post: Als der Briefträger die Monster brachte (Spiegel Online, 27.1.2010)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

Fantasy-Spiele per Post

Als der Briefträger die Monster brachte

Hunderte von Spielern auf der ganzen Welt treten in einer erdachten Spielwelt gegeneinander an, ohne einander je gesehen zu haben – das gab’s schon vor “World of Warcraft”. Vor 40 Jahren entstanden die ersten kommerziellen Postspiele. Wer heute noch per Brief spielt, sitzt meist hinter Gittern.

Spiegel Online, 27.1.2010


Rick Loomis ist wohl der erste Mensch auf der Erde, der sich einen Computer allein zum Spielen gekauft hat. 1970 war das. Loomis hat seinen Militärdienst gerade hinter sich und kommt von der Basis auf Hawaii mit einem Plan zurück nach Scottsdale, Arizona: Er will ein Spiel organisieren, bei dem Kunden überall in den Vereinigten Staaten miteinander spielen – per Post. Die Spielwelt soll ein Computer simulieren, alle Züge der Mitspieler abwickeln und die Ergebnisse berechnen. Spieldesigner Loomis bestellt für seinen Spielverlag Flying Buffalo einen Minicomputer beim Rüstungs- und Elektronikkonzern Raytheon: 365 Dollar im Monat kostet der Minicomputer namens 704 – fünf Jahre lang.

Wie das Spiel funktionierte, das Rick Loomis vor 40 Jahren erfunden hat, ist heute gar nicht so einfach zu erklären. 1970 waren die grundlegenden Internet-Protokolle noch nicht einmal entwickelt, die wenigen Computer standen in Universitäten, beim Militär und Geheimdiensten. Loomis’ erstes Multiplayer-Spiel läuft als nicht online ab, sondern per Post: Die Spieler schicken ihm ihre geplanten Züge, Loomis gibt alles in den Minicomputer ein, der spuckt die Auswertungen aus, die Loomis wiederum per Post zurück an die Spieler schickt. Ein Riesenaufwand – aber erheblich einfacher als alle Spielzüge ohne Rechenhilfe auszuwerten.

Mitspieler auf der ganzen Welt

Rick Loomis hat 1970 das Geschäftsmodell erfunden, das heute Online-Rollenspielen viel Geld einbringt: Gegen ein Monatsabo lagert man die Spielabwicklung an einen professionellen Dienstleister aus, der einem zugleich immens viele echte Gegen- und Mitspieler bietet, mit denen man sich eine Welt teilt.

Als Loomis vor 40 Jahren die ersten von Software verwalteten Spielwelten schafft, sieht die Interaktion mit ihr ganz anders aus als heute: Loomis betreibt zunächst Strategiespiele wie “Nuclear War” und später die Weltraum-Simulation “Starweb”, die Botschaften an die Spieler lesen sich da zum Beispiel so:

 

[KLEPTO]=COLLECTOR SCORE=0 AUTO-AMBUSH IS *ON* W33 (24,178,212) [KLEPTO] (30,2,50,100, T/0=1,RMS=0,ISHP=1,PSHP=1) F49[KLEPTO]=0 F115[KLEPTO]=0 F138[KLEPTO]=0 F189[KLEPTO]=0 F20[KLEPTO]=0

So ähnlich, wie man die Tabellen späterer Rollenspielsysteme studieren muss, um zu verstehen, welche Zahlen welches Ereignis in der Spielwelt bedeuten, liest ein “Starweb”-Spieler aus diesen Daten heraus, dass seine Spielfigur Klepto heißt, Kunstsammler ist, im Spiel keine Punkte gesammelt hat, sich auf Welt 33 aufhält und von dort zu den Welten 24, 178 und 212 reisen kann. Außerdem steht in den vier Zeilen Spielcode, wie gut es um die Industrie, Bevölkerung und Verteidigung von Welt 33 bestellt ist und wie viele Raumschiffe Klepto kommandiert.

Wie Strategiespiele Fantasy-Welten prägten

Die meisten der frühen Postspiele sehen so aus, beschränken sich auf Zahlen, Taktik und Strategie, selbst wenn sie in fernen Spielwelten ausgetragen werden. Die ersten Postspiele waren auch Umsetzungen von Klassikern wie ” Diplomacy” und Schach ohne Weltschöpfungs-Anspruch. 1963 lud der New Yorker Physik-Professor John Boardman die ersten “Diplomcy”-Spieler über sein Fanzine “Graustark” zu Postspiel-Partien ein.

Für die Entwicklung der Pen&Paper- Rollenspiele waren die Postspiele in vieler Hinsicht wichtig: Neben den kommerziellen Postspielen, bei denen die Spieler vor allem mit dem Anbieter in Kontakt waren, gab es auch sehr viele von freiwilligen Spielleitern abgewickelte Postspiele, bei denen die Ergebnisse in Fanzines veröffentlicht wurden. Die Spieler schickten dem Spielleiter ihre Züge per Post, die großen Entwicklungen in der Spielwelt wurden aber in einem an alle Mitspieler verschickten Fanzine beschrieben. So vernetzte sich die Spieler-Subkultur, was ein Publikum für spätere Rollenspiele schuf.

Monster, Schätze, Zaubertränke

Rick Loomis hat selbst eins der ersten Pen&Paper-Rollenspiele verlegt: “Tunnels & Trolls” (in Deutschland “Schwerter und Dämonen”) schrieb 1975 sein Bekannter Ken St. Andrew. Loomis wickelt auch Rollenspiele per Post ab. Sein Spiel “Heroic Fantasy” nennt er ein “recht einfaches kampfbasiertes Rollenspiel”: “Man kann bis zu 15 Charaktere haben, die durch das Dungeon laufen. Es gibt Magier, Trolle, Riesen. Es gibt Schätze, Fallen. Man kann sie als Gruppe bewegen oder aufteilen. Charaktere haben zwei Eigenschaften, Stärke und Ausdauer. Man geht von Raum zu Raum, trifft Monster, sammelt Schätze, findet ab und an Zaubertränke, die einen für zehn Runden unsichtbar machen.”

Im deutschsprachigen Raum entwickelten sich Post-Rollenspiele in Fantasy-Welten ganz ähnlich aus Strategie-Titeln: 1966 gründen in Wien Eduard Lukschandl und Hubert Straßl den Verein Follow, dessen Mitglieder die Fantasy-Welt Magira und das dort verortete Strategiespiel Armageddon entwickeln. Magira-Fans entwickelten in den 70ern das Pen&Paper-Rollenspiel “Midgard”. Aus der Fantasy-Welt Magira entwickelten sich auch viele deutsche Postspiele, zum Beispiel das 1972 von Franz Schröpf geschaffene “Ragnarök” oder das seit 1973 laufende Fantasy-Briefspiel ” Kalevala“.

Jeder Spieler ist ein Weltenschöpfer

Bei vielen dieser Fantasy-Postspiele trieb die Mitspieler mehr noch als die Lust zu gewinnen die Leidenschaft an, eine eigene Welt zu erschaffen und mit anderen Spielern die Simulation dieser erdachten Welt zu durchstreifen.

In dem 1989 erschienen Band “Spiele per Post” beschreibt der Erfinder des Postspiels Myra Wolfgang G. Wettach den Reiz so:

“Dabei geht es darum, eine Welt der Phantasie, nämlich Myra, kulturell auszugestalten und glaubhaft zu beschreiben. Gleichzeitig soll durch Spielhandlungen in dieser Welt der Phantasie ‘Geschichte geschrieben werden’.”

Den Aufwand, sich in die damals gerade mal sieben Jahre alte Spielwelt Myra einzufinden, beziffert Wettach für Spielleiter so: Der neue Spielleiter müsse sich genügend einarbeiten, um in den “Auswertungen auf die Kulturen der Spieler eingehen zu können. Das bedeutet die gründliche Lektüre von 500 bis 3000 Seiten, je nachdem, wie lange ein Segment schon gespielt wird.”

In den Fanzines der einzelnen Spiele berichten die Spielleiter vom aktuellen Spielgeschehen, aber bei vielen Welten reichen die Spieler auch Beiträge ein, die ihre Reiche beschreiben, Gerüchte über andere Figuren verbreiten oder Anekdoten erzählen. Diese weltenschöpferische Feinarbeit erinnert sehr an Pen&Paper-Rollenspiele, wo alle Mitspieler an einem Tisch sitzen.

“Spiele per Post – die zeitgemäße Dimension der Unterhaltung!”

Die achtziger Jahre waren die großen Zeit der Postspiele, erinnert sich Rick Loomis: “Da gab es drei, vier andere Firmen mit Postspielen auf jeder Convention. Damals gab es kein Netz, die Menschen suchten Gegenspieler.” Noch 1989 pries der Klappentext von “Spiele per Post”: “Die Ära der Telekommunikation hat sich eine neue, eine zeitgemäße Dimension der Unterhaltung erschlossen – die Spiele per Post!”

Doch schon da kündigte sich der anstehende Umbruch an: Das erste Online-Rollenspiel hatten 1978 zwei britische Studenten programmiert – MUD lief aber nur im Uni-Netzwerk. In den Vereinigten Staaten erschien 1989 für den AOL-Vorläuferdienst das Onlinespiel “Quantum Space”, ein elektronisches Postspiel, das auch Privatkunden daheim an ihren Terminals spielen konnten.

Die ersten graphischen Online-Rollenspiele erschienen in den 90er Jahren. Die Nachfolger der frühen Titel wie “Neverwinter Nights” (von SSI 1991 für AOL entwickelt) binden heute mehr Abonnenten als ihre Vorläufer je hatten.

Postspiel- und Computer-Pionier Rick Loomis hat von diesem Boom nicht profitiert. “Ich war zu früh dran, es gab damals kein Internet, kaum Heimcomputer, alles lief über Post. Wir wurden deshalb nie so groß wie die MMORPGs (Online-Rollenspiele) heute, wir hatten zu unseren besten Zeiten ein paar Tausend Postspieler, 16.000 Kunden über die Jahre.”

Die letzten Briefspieler sitzen im Gefängnis

Loomis hat sich vor 40 Jahren ein Spielerlebnis gewünscht, wie es “Ultima Online” oder “World of Warcraft” ermöglichten: “Die MMORPGs sind das, wovon ich damals geträumt habe. Riesige Spiele mit vielen Spielern auf der ganzen Welt, die in einer Welt zusammen unterwegs sind.”

Rick Loomis wickelt immer noch seine Postspiele für die verbliebenen Kunden ab: “900 Kunden habe ich noch. 80 Prozent spielen per E-Mail. Die meisten der anderen sind im Gefängnis und dürfen nicht ins Netz.”

Regelmäßig verschickt Rick Loomis die Auswertungen der neuesten Spielrunde per Brief und E-Mail: “Alle zwei Wochen, damit die Menschen ein Leben zwischen den Spielzügen haben.”


Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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