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Feind liest mit (Frankfurter Rundschau, 19.2.2003)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

Feind liest mit

Wissenschaftliche US-Fachblätter zensieren sich selbst, bevor es die Regierung tut

 

Frankfurter Rundschau, 19.2.2003

Wenige Wochen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hat US-Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice geschrieben: "Die Verbindung zwischen freiem Austausch von Ideen, wissenschaftlicher Entwicklung, Wohlstand und nationaler Sicherheit ist unbestreitbar." Dennoch diskutieren in den Vereinigten Staaten ungezählte Arbeitskreise und Konferenzen darüber, ob die Freiheit der Wissenschaft zur Hilfe für Terroristen und Bedrohung werden könnte. Damit es dazu nicht kommen kann, erklären Forscher sowie Herausgeber und Chefredakteure von 32 Fachjournalen, sie würden im Zweifel Arbeiten gar nicht oder nur teilweise drucken. Entsprechende Erklärungen sollen in den nächsten Tagen bekannt gemacht werden.

Jede der 32 Fachzeitschriften wie Nature, Science, New England Journal of Medicine und Lancet will die neuen Veröffentlichungsregeln in eine eigene Form abwandeln. Sie sollen für die Wissenschaftler freiwillig gelten. Ronald Atlas, Vorsitzender der "American Society of Microbiology", ist sicher, dass die Fachleute sich daran halten werden: "Wir leben jetzt in anderen Zeiten. Unsere Informationen haben Missbrauchspotenzial. Wir werden die angemessenen Schritte einleiten, um die Öffentlichkeit zu schützen."

Das ist ein bedeutsamer Vorgang, denn Fachaufsätze sind ein Pfeiler des Wissenschaftsbetriebs. So werden Erkenntnisse verbreitet, geprüft – und Karrieren gemacht: Je mehr Artikel in angesehenen Zeitschriften auf der Publikationsliste eines Forschers stehen, desto höher sein Marktwert. Das System wirkt global: Die Zeitschriften der "American Society for Microbiology" erhalten Manuskripte aus mehr als hundert Staaten, 60 Prozent der Autoren haben nicht die US-Staatsbürgerschaft, ebenso ein Fünftel der Gutachter.

Die Selbstzensur ist auch ein Ergebnis der Politik der US-Regierung. In den vergangenen Monaten sickerten aus dem Verteidigungsministerium und dem Weißen Haus Entwürfe an die Öffentlichkeit, die eine stärkere Kontrolle der Forschung verlangen. Wissenschaftler, die mit Geld aus Ministerien forschen, sollten alle Veröffentlichungen zur Sicherheitskontrolle vorlegen. Nach heftigen Protesten wurden die Entwürfe verworfen. Ihren Zweck hatten sie aber erfüllt: den Druck auf die Wissenschaft zu erhöhen, eigene Lösungen zu finden, bevor es die Regierung tut.
Die vom Weißen Haus favorisierte und nun in Gang gekommene Selbstregulierung sehen auch manche Experten als einzig sinnvolle Lösung. Steven Aftergood, der bei der "Federation of American Scientists" die Geheimhaltungspolitik der US-Regierung untersucht, urteilt: "Das ist die angemessene Richtung. Denn es gibt durchaus ein ernstes Gefahrenpotenzial, und das können die Wissenschaftler selbst am besten abschätzen – ebenso wie die Vorteile des freien Zugangs."

Warum das selbst Fachleuten schwer fallen dürfte, erklärt Professor Werner Goebel, Leiter des Biozentrums der Universität Würzburg: "Es gibt vielleicht wenige Fälle, wo die Lage von Anfang an klar ist. Beispielsweise bei der Verstärkung von Toxinen. Doch das meiste gerade in der Mikrobiologie ist Grundlagenforschung. Da kann im Prinzip alles auch für Terroristen interessant sein." Forschungsergebnisse können immer unterschiedlich genutzt werden: Eine Methode, nach der Gifte gegen Krebszellen produziert werden, kann auch Stoffe hervorbringen, die Zellen in fast jedem menschlichen Gewebe angreifen, um sie zu zerstören. Nicht die Information, sondern das Motiv ihrer Leser bestimmt die Gefahr. Die sinkt nicht zwangsläufig, wenn Erkenntnisse geheim bleiben. So könnte gar ein falsches Sicherheitsgefühl entstehen. Denn solange die Selbstverpflichtung nicht überall gilt, kann jederzeit das selbe Ergebnis anderswo gefunden und veröffentlicht werden.

Deutsche Forscher, die in Fachblättern wie Lancet und Nature veröffentlichen, werden dort bald zum ersten Mal mit solchen Regeln konfrontiert: "In Deutschland haben wir keine Kommissionen, die sich damit befassen, und auch keine Diskussion auf breiter Basis", sagt Mikrobiologe Goebel. "Aber natürlich können sich Forscher in Gewissensnot heute mit solchen Fragen an die Ethikkommissionen an den Universitäten wenden."

Dem möglichen Sicherheitsgewinn steht bei Geheimhaltung ein sicherer Schaden gegenüber: Wenn Forscher in einem bestimmten Gebiet nur geringe Chancen haben, Ergebnisse zu veröffentlichen, werden sie sich womöglich anderen, öffentlichkeitswirksameren Feldern zuwenden. Und das würde Kranke, die auf eine zivile Anwendung der Resultate hoffen, wohl stärker treffen als Waffenbauer, denn die lassen selbst forschen. Und die wenigen Wissenschaftler, die in einem solchen Feld weiter arbeiten, müssten das unter erschwerten Bedingungen tun, da Anregungen durch Arbeiten und Ergebnisse anderer nur schwer zu ihnen durchdringen.

Bisweilen wird in der Diskussion die Möglichkeit angeführt, aus veröffentlichten Arbeiten nur die Abschnitte über verwendete Methoden und Stoffe zu entfernen. Dann wären die beschriebenen Ergebnisse nicht nachvollziehbar. Die gegenseitige Kontrolle der empirischen Grundlagen von Ergebnissen entfiele. "Ohne Methoden kann man ja gleich im Spiegel veröffentlichen", sagt Goebel.

Diese Probleme haben bisher alle US-Regierungen erkannt – und die Lösung weitgehend der Wissenschaft überlassen. Im Jahr 1985 hieß es in einer Sicherheitsdirektive der Reagan-Regierung: "Bis zum größtmöglichen Ausmaß sollten die Ergebnisse von Grundlagenforschung offen zugänglich sein." Ob dieses Ausmaß im Kalten Krieg größer war als heute, muss jetzt die Wissenschaft bestimmen.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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