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Flickr-Rebellion: Yahoos Fotofreunde wüten gegen Microsoft-Offerte (Spiegel Online, 5.2.2008)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
6 minuten gelesen

Flickr-Rebellion

Yahoos Fotofreunde wüten gegen Microsoft-Offerte

Finger weg von Flickr! Mitglieder der Fotoseite protestieren gegen Microsofts Übernahmeangebot und drohen, ihre Bilder zu löschen. Microsoft kann das gelassen sehen: Flickr hat seine Fans schon häufiger erzürnt – und bislang sind die meisten der Seite treu geblieben.

Spiegel Online, 5.2.2008

Der brasilianische Hobbyfotograf Gustavo Cardoso aus São Paulo macht seiner Wut Luft: Auf einem Protestfoto im Bilderverzeichnis Flickr hält er ein Blatt Papier hoch. Aufschrift: "Nicht hier, Micro$oft! Lasst uns in Ruhe!" Wie er empfinden Hunderte andere lautstark protestierende Flickr-Mitglieder: Microsofts Kaufofferte für Flickrs Konzernmutter Yahoo empört und beunruhigt einen Teil der langjährigen Flickr-Fans. Sie rotten sich in Gruppen zusammen, die Namen tragen wie " Microsoft, lass deine bösen, schmutzigen Hände von unserem Flickr" oder " Wenn Microsoft Flickr (Yahoo) kauft, lösche ich meinen Account". In den vergangenen drei Tagen haben sich knapp 800 Flickr-Mitglieder in einer dieser Gruppen angemeldet. Sie diskutieren mögliche Alternativen zu einem "MS Flickr", unterzeichnen Petitionen gegen die Übernahme, verhöhnen und verspotten Microsoft mit Bildmontagen.

Viele der Nachrichten in den Anti-Microsoft-Gruppen beschränken sich auf Einzeiler wie "Lasst Flickr in Ruhe." Die Autoren der tiefer gehenden Beiträge argumentieren meist wie der US-Fotograf mit dem schönen Flickr-Pseudonym "Planet Pixel": "Was immer Microsoft angefasst hat, ist unpraktischer und umständlicher geworden. Ich denke, die Flickr-Oberfläche wird sich verändern, eine Unmenge neuer unnützer Fähigkeiten aufnehmen."

Alle Flickr-Protestwellen sind verebbt

Derartigen Protest einiger lautstarker Nutzer ist man bei Flickr gewöhnt. Der hat bislang jede der umstrittenen Entscheidungen der Firma begleitet – und Flickr hat jede dieser Online-Protestwellen ausgesessen. Was sind schon 1000 zürnende Mitglieder bei 20 Millionen (so viele hatte Flickr nach eigenen Angaben im vorigen Dezember)?

Die erste Protestwelle kam und verebbte 2005. Damals kaufte Yahoo das 2002 im kanadischen Vancouver gegründete Bilderportal Flickr. Im Sommer zog Flickr zur neuen Konzernmutter ins kalifornische Sunnyvale, von 2006 an sollte jeder Flickr-Nutzer verpflichtend eine (kostenlos in wenigen Minuten zu registrierende) Yahoo-Identität zum Einloggen bei Flickr benutzen.

Flickr-Fans toben wegen Yahoo-Kauf

Diese Zwangsregistrierung empörte einige altgediente Flickr-Mitglieder. Der Hamburger Künstler Thomas Müller gründete damals die Flickr-Protestgruppe "Flick off", drohte mit Massenkündigungen bezahlter und nicht-bezahlter Flickr-Accounts, sollte die Yahoo-Zwangsregistrierung bestehen bleiben.

Heute, zweieinhalb Jahre später, muss jedes Flickr-Mitglied sich per Yahoo-Login identifizieren. Die Fotoseite hat Millionen Mitglieder gewonnen und die Protestgruppe " Flick Off" existiert sogar noch – inklusive 1406 Mitglieder, die es mit der Kündigung wohl doch nicht so ernst gemeint haben damals.

Die nächste Protestwelle provozierte Flickr im Sommer mit der lange verschleierten Einführung eines Filtersystems: Flickr sperrte deutschen Nutzern alle Bilder, die irgendein Nutzer für zu anstößig hielt, um sie seiner Oma zu zeigen (nackte Brüste, Hundehaufen – siehe Kasten unten zu Details).

SO FUNKTIONIERT DER FLICKR-FILTER

Die Grundlage
Flickr verlangt von seinen Nutzern, dass sie ihre Fotos selbst einstufen, wenn sie sie auf dem Foto-Portal veröffentlichen. Es gibt drei Kategorien, die Flickr so definiert:

  • unbedenklich: Bilder sind für ein breites öffentliches Publikum geeignet
  • mittel: Einige der Bilder könnten andere Personen als störend oder unangemessen empfinden
  • eingeschränkt: "Fotos, die Sie nicht Ihren Kindern, Ihrer Großmutter oder Arbeitskollegen zeigen würden"

Die Filtermechanik
Flickr-Nutzer, die sich beim deutschen Flickr- oder Yahoo-Portal registriert haben, bekommen nur unbedenkliche Bilder zu sehen. Man kann inzwischen aber angeben, dass man auch als "mittel" eingestufte Bilder sehen möchte. Als "eingeschränkt" markierte Fotos sind weiterhin für alle deutschen Nutzern gesperrt. Auch für die, die ihren Flickr-Zugang per Kredikarte bezahlt haben – die in Deutschland nur Volljährige besitzen dürfen. Fazit: Flickr lässt seine volljährigen deutschen Nutzer nicht entscheiden, was sie sehen wollen.

Die Folgen
Legale und auch aus Jugendschutzsicht unbedenkliche Fotos (zum Beispiel Oben-ohne-Bilder) sind für Deutsche nicht mehr zu sehen, wenn der Fotograf sie als bedenklich markiert hat. Andererseits sind zahlreiche in Deutschland nicht zulässige Inhalte bei Flickr einzusehen, weil die amerikanischen Fotografen sie nicht als bedenklich markiert haben. Besondern häufig zum Beispiel im Bilder-Pool "Hitler": SS-Runen und Hakenkreuze. Fazit: Brüste, wie sie auf Titelseiten diverser frei verkäuflicher Magazine in Deutschland regelmäßig abgedruckt werden, sperrt Flickr für alle Deutschen. SS-Symbole nicht.

Der Trick
Betroffen sind nur Nutzer, die ihren Zugang bei der neuen deutschen Flickr-Version registriert haben oder einen Account von Yahoo Deutschland als Login benutzen. Wer sich bei Yahoo.com registriert hat, kann auch bei Flickr Deutschland ungefilterte Bilderseiten sehen. Mann kann seinen bestehenden Flickr-Account einem neu angelegten Yahoo.com-Konto zuordnen. Nützlich ist das auch für die Nutzer in Österreich und der Schweiz. Die sind trotz anderer Gesetzeslage ebenfalls dem Flickr-Zwangsfilter ausgeliefert. 

Ändern konnten deutsche Nutzer daran nichts. Nicht einmal die Kreditkarteninformationen der Nutzer eines kostenpflichtigen Flickr-Accounts genügen dem Fotoportal als Altersnachweis (siehe Kasten unten).

GEGENARGUMENTE, DIE FLICKR IGNORIERT

Andere Praxis bei Google
Dienste wie Google bieten deutschen Nutzern die Möglichkeit, ihre "sichere Suche" auf Wunsch zu deaktivieren. Warum ist das bei Flickr nicht möglich?

Kreditkarte als Zugangsberechtigung
Die Nutzer eines kostenpflichtigen Flickr-Accounts bezahlen per Kreditkarte. Weil diese in Deutschland nur Volljährige haben können, wäre es denkbar, zumindest solchen Nutzern eine "unsichere Suche" zu erlauben. 

Gefiltert wird nicht nach deutschem Recht
Flickrs Zwangsfilter arbeitet nicht nach den Kriterien des deutschen Jugendschutzes, des deutschen Rechts überhaupt. Er beruht vor allem auf der Selbsteinschätzung der Bildinhaber. Vermutlich auch deshalb sind SS-Runen bei Flickr für jedermann zu sehen. 

Individuelle Werturteile sind nicht global gütlig
Ein Zwangsfilter, der auf der Selbsteinschätzung der Nutzer aus aller Welt beruht, kann nicht für Nutzer aus aller Welt zufriedenstellend filtern. Der Denkfehler: Was ein Flickr-Nutzer in Dubai für anstößig hält und entsprechend klassifiziert, gilt in Deutschland möglicherweise als harmlos. Trotzdem ist es hierzulande nicht zu sehen. Denn Flickrs Zwangsfilter macht lokale, ja sogar individuelle Wertmaßstäbe global verbindlich. 

Die deutschen Nutzer fühlten sich übergangen, ignoriert, nicht ernst genommen – schließlich hatte Flickr diese Filterfunktion vor der Einführung nicht erwähnt. Die Flickr-Mitglieder zürnten, verlangen in Forumseinträgen Aufklärung über die Gründe für die Zwangsfilter, riefen zum Boykott auf.

Ergebnis: Die Filter sind weiter in Kraft – und eine der größten Protestgruppen im Flickr-Forum zu dem Thema "Againstcensorship" ist inzwischen nicht mehr öffentlich zugänglich.

Wütende Nutzer schaden Flickr kaum

Die kanadische Fotografin Aletta Mes bilanziert resigniert: "Ich habe mir die Alternativen angeschaut. Bislang ist Flickr die beste Option. Man kommt bei jedem Dienst an eine Zensurgrenze." Sie rechnet den Flickr-Demonstranten vor, wie wenig eine Kündigung ihres kostenpflichtigen Flickr-Accounts Yahoo tatsächlich ausmacht: "Die Realität ist, dass Flickr den größten Umsatz mit Werbung macht, nicht mit den Abogebühren aus Flickr-Pro-Mitgliedschaften." Aletta Mes’ Fazit: "Yahoo mit einer Abokündigung zu drohen, ist eine vergebliche Mühe."
Angesichts der Flickr-Kontroversen und der simplen aber bislang offenbar erfolgreichen Aussitzstrategie der Firma hat Aletta Mes mit diesem resignativen Fazit recht. Mitmachnetz bedeutet eben nicht, dass sich Demonstranten durchsetzen. Solange Microsoft es als etwaiger Flickr-Neueigentümer mit den Änderungen nicht übertreibt, muss der Konzern sich wohl keine allzu großen Sorgen machen.

Schließlich freuen sich sogar einige Nutzer auf Microsoft als Flickr-Paten. Thomas Martin aus Minnesota zum Beispiel, der in seinem Forenbeitrag sorgsam abwägt: "Ich bin mir sicher, dass Microsoft seine eigene Flash-Alternative Silverlight auf den eigenen Seiten bewerben wird, das wird also einige Veränderungen bringen." Er verzweifelt dennoch nicht, schließlich könnte die Flickr-Seite von solch einer Überarbeitung nur profitieren: "Die vergangenen Monate mit Flickr unter Yahoo-Führung waren nicht gut. Ich glaube nicht, dass unter Microsoft-Führung zahlende Flickr-Kunden als Beta-Tester für größere Überarbeitungen herhalten müssten. Aber ich kann da falsch liegen."

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Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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