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Frankreich ist fast überall (Die Presse, 24.5.2003)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Frankreich ist fast überall

Franzosen sind stolz auf ihre Videospielkultur. Doch nicht diese Verlagskonzerne, sondern kleine Entwickler aus Österreich und Japan zeigen, wie in regionalen Marktnischen neue Ideen entstehen – und den internationalen Markt bereichern

Die Presse, 24.5.2003

In Großbritannien, dem europäischen Staat mit dem größten Markt für Computerspiele, hat Premierminister Tony Blair die nationale Spielindustrie einmal lobend erwähnt – in einem Nebensatz, als er Ende der neunziger Jahre sein Kultur-Programm „Creative Britain" vorstellte. In Deutschland, dem zweigrößten Spielemarkt Europas, reden Politiker weit mehr über Spiele – darüber, welche verboten werden sollen. In Frankreich aber, wo man viel Wert auf die Nationalkultur legt, gehören Computerspiele ganz selbstverständlich dazu. Premierminister Jean-Pierre Raffarin persönlich eröffnete vor kurzem einen Videospielpavillion und lobte die Tradition der französischen Spielindustrie.

Zehn der weltweit größten Spielverlage kommen aus Frankreich: Vivendi Universal Games, Ubi Soft und das vor kurzem in Atari umbenannte Haus Infogrames. Französische Verlage verkaufen weltweit ein Fünftel aller Spiele. Die aktuelle Krise – der Konzern Vivendi will seine Spielsparte verkaufen, Infogrames wies für das Fiskaljahr einen Verlust von 79,4 Millionen Euro aus – wird in Frankreich als Bedrohung der Nationalkultur gesehen. Das intellektuelle Magazin „Nouvel Observateur“ schrieb drei ganze Seiten über die Besonderheit französischer Spiele und die Gefahr eines Verkaufs von Vivendi Universal Games an einen US-Konzern. Inzwischen macht Infogrames, oder wie es seit Anfang Mai heißt Atari, wieder Gewinne, doch die französische Regierung einen millionenschweren Hilfeplan für die nationale Videospielbranche aufgelegt. Mit insgesamt vier Millionen Euro unterstützt der Staat in diesem Jahr neue Projekte krisengeschüttelter Entwickler. Außerdem können sie einfacher Steuererleichterungen bekommen.

Doch die französische Regierung geht über diese rein wirtschaftlichen Fragen hinaus. Regierungschef Raffarin kündigte eine Studie an, die den gesellschaftlichen Stellenwert der Spieleindustrie beleuchten soll. Außerdem ist ein Museum für Computer und Videospiele im Gespräch. Bei der Archivierung ist Frankreich ohnehin Vorreiter in Europa: Seit 1992 verpflichtet ein Gesetz die Hersteller von Spielen, kostenlos ein Exemplar jedes Titels an die Nationalbibliothek zu schicken. Dort lagern heute bereits 70000 Spiele. „Eine repräsentative Sammlung des französischen Markts und seiner Geschichte“, findet die Leiterin Joelle Garcia. Zugriff haben darauf bislang allerdings nur Forscher.

Ob sich die französischen Spiele aber tatsächlich fundamental von den amerikanischen oder britischen unterscheiden – dass will nicht einmal Christophe Ramboz, Europachef bei Vivendi Universal unterschreiben: „Wir haben in Frankreich sehr gute Grafiker", sagte er einmal darüber zu „Le Monde". Das ist vielleicht die einzige Besonderheit französischer Titel. Die edle Grafik zeichnete etwa die Adventure-Spiele des Entwicklers Cryo aus. Dabei stand die hohe Auflösung – bei US-Egoshootern das wesentliche Kriterium für die Grafikqualität – im Vordergrund, sondern die geschmackvolle Komposition. Doch heute merkt man den Titeln französischer Spielverlage an, das sie 80 Prozent im Ausland absetzen. Dort produzieren die großen Drei auch immer mehr: Infogrames/Atari kaufte zum Beispiel 1996 das britische Studio Ocean, 1997 die Niederländer „Philips Media", 1999 die Briten „Gremlin", die das australische „Ozisoft" und das amerikanische „Accolade" und „GT Interactive".

Spiele müssen international verkauft werden, weilt die Entwicklungskosten noch schneller gestiegen als die Umsätze und Gewinne: auf 3 bis 6 Millionen Euro je Titel, das ist das Zehnfache der Durchschnitsausgaben 1993. Das hat neben der internationalen Refinanzierung noch eine andere Konsequenz: 60 bis 70 Prozent der erscheinenden Spiele sind Fortsetzungen, Teile einer Produktreihe oder Lizenztitel – das sagen die Zahlen der in der Spielindustrie arbeitenden britischen Risiko-Managment-Firma „Wise Monkey". Die Folgen beschreibt Bob Hopkins von „Wise Monkey“ so: „Die Verlage sind nicht willens, Prototypen neuartiger Spiele zu finanzieren. Man kann kommerzielle Risiken durch Lizenzen, Franchise-Bildung und populäre Themen senken.“ Sprich: Es droht ein Einheitsbrei.

Solche Befürchtungen sind allerdings übertrieben. Denn noch haben alle nationalen Spielemärkte ihre Besonderheiten, die noch immer in anderen Staaten ungewöhnlichen Titel entstehen lassen.

Österreich und Deutschland exportieren zum Beispiel ihre Begeisterung für Aufbau-Strategiespiele wie „Anno 1503" in die ganze Welt. Mit solchen Titeln sind österreichische Entwickler groß geworden – ihre Kenntnis für die nationalen Vorlieben war das Sprungbrett für den internationalen Erfolg. Das steirischen Entwicklerteam „Max Design" aus Schladming debütierte zum Beispiel 1992 mit der Wirtschaftssimulation „1869: Hart am Wind". Ihr jüngster Titel, das Aufbau-Strategiespiel „Anno 1503", ist nicht nur in Österreich und Deutschland ein Erfolg, sondern auch international: In Frankreich, Spanien und England war der Titel unter den zehn bestverkauften Titeln. Auch das österreichische Studio „JoWooD" schaffte mit einer Mischung aus Wirtschaftssimulation und Aufbau-Strategie den internationalen Durchbruch, und zwar 1997 mit „Industriegigant". Auch die inzwischen zur Take2-Gruppe gehörenden Wiener Entwickler „Neo Software" haben 1993 in ihrem Erstling „Whale's Voyage" Elemente aus Rollenspielen, Adventuren und eben Wirtschaftssimulationen vermischt. Von ihren Aufbau-Strategiespiel „Die Völker" wurden europaweit mehr als eine Million Exemplare verkauft.

Ganz ähnlich haben japanische Entwickler die dortige Begeisterung für Musikspiele exportiert. Musikspiele wie „Parappa the Rapper“ sind weltweit erfolgreich. Und dem sicheren heimischen Markt für dieses Genre ist zum Beispiel der außergewöhnliche Playstation-Titel „Vib Ribbon“ zu verdanken. Das Spiel berechnet aus beliebiger Musik zweidimensionale, im Takt pulsierende Landschaften, deren Hindernisse der Spieler überwinden muss. Auch wenn Jean-Pierre Raffarins Auftritt einmalig bleibt – Frankreich ist fast überall.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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