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Gehackte Hardware: Meine Festplatte warnt vor Erdbeben (Spiegel Online, 24.4.2008)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

Gehackte Hardware

Meine Festplatte warnt vor Erdbeben

Wenn Hacker Alltagstechnik zweckentfremden, entstehen die bizarrsten Anwendungen. Apple-Rechner werden dank missbrauchten Schüttel-Schutzes zum Seismographennetz, Wii-Controller ersetzen Datenbrillen – und mit iPods kann man telefonieren.

Spiegel Online, 24.4.2008

Wie langweilig: In Apples Macbooks steckt ein dreiachsiger Beschleunigungsmesser und kann von Haus aus nichts anderes, als bei einem Sturz des Laptops die Festplattenköpfe schnell zu parken. Das verhindert den totalen Datenverlust, beeindruckt aber niemanden. Forscher einiger kalifornischer Universitäten haben eine neue Verwendung für diese meist ungenutzte MacBook-Hardware: Die Laptops sollen helfen, Erdbeben zu wittern und zu beobachten.


Das Ziel dieses auf Kalifornien beschränkten " Quake Catcher Networks" beschreibt der Geologe Jesse Lawrence von der Stanford Universität dem US-Magazin " Technology Review" so: "Wir wollen nicht Erdbeben vorhersagen, sondern sie sehr schnell messen und die Warnung möglichst breit streuen, bevor sie großen Schaden anrichten."

 

Die Idee: Eine auf den Macbooks der freiwilligen Teilnehmer installierte Software liest ständig die Daten des Beschleunigungsmessers aus und gibt sie samt Rechnerstandort über die Internetverbindung weiter an den Zentralrechner. Mithilfe von Erfahrungswerten, den Daten anderer Rechner und statistischen Methoden soll die Software die gelieferten Daten interpretieren und gewichten. Wer in der Nähe einer Baustelle mit Presslufthammereinsatz arbeitet oder sein Macbook oft auf dem Schoß ruhen lässt, mit dem Bein wackelt und so den Beschleunigungsmesser in Aufregung versetzt, sollte also keine Erdbebenwarnung auslösen.


Ernstgemeintes Ziel: Katastrophen-Prävention

Das Ziel der Forscher auf mittlere Sicht: Ihr "Quake Catcher Network" soll um die Daten der regulären Messstationen ergänzt werden und dann bei einem kritischen Erdbeben in Kalifornien eine Warnung über das Netz verschicken, die den Empfängern 10 bis 20 Sekunden gibt, um in Deckung zu gehen. Die an dem Projekt beteiligte Seismologin Elizabeth Cochran von der University of California in Riverside hält das für realistisch. Sie erklärt in " Wired": "Wir können eine Erdbebenwelle messen und die Warnung versenden, bevor sie die Betroffenen erreicht. Das ist physikalisch machbar."

Derzeit ist das Forschungsprojekt in der zweiten von sechs Entwicklungsphasen. Laut Entwicklungsplan werden noch mindestens fünf Jahre vergehen, bis das System vollständig getestet ist.

Dass die Beschleunigungssensoren in den Macbooks sehr viel mehr können, als Festplatten zu retten, demonstrieren Programmierer schon lange mit Anwendungen wie diesen:

  • iAlertU lärmt, wenn das alarmgesicherte Macbook bewegt wird, schießt noch ein Foto mit der eingebauten Kamera und verschickt es per E-Mail.
  • Tunnel: Bei diesem Spiel steuert man ein Schiff durch einen Tunnel, indem man das Macbook kippt.
  • AMS2HID übersetzt Notebook-Bewegungen in Maus- oder Tastaturbefehle. So kann man zum Beispiel das Spiel Neverball intuitiv steuern (siehe Video unten).

{youtube}hZCag0iDXLc{/youtube}

Erdbebenmelder sind nicht alles: digitale Weißwandtafeln, iPod-Telefone – SPIEGEL ONLINE zeigt, was Tüftler aus Alltags-Technik machen:

Digitale Weißwandtafel – mit Wii-Controller 1950 Dollar billiger

Die kalifornische Technikkonferenz TED glänzt mit illustren Sprechern: Amazon-Chef Jeff Bezos, die Google-Gründer, Sergey Brin und Larry Page, und Al Gore waren in diesem Jahr da. Und Johnny Chung Lee, Informatik-Doktorand der Carnegie Mellon Universität.

Chung zeigte dem begeisterten Publikum, wie sich aus dem Controller der Nintendo-Spielkonsole Wii und einem selbstgebastelten Stift mit Infrarot-Leuchtdiode eine digitale Weißwandtafel basteln lässt (siehe Video unten). Chung schreibt mit dem Infrarotstift auf der Projektion an der Wand, zeichnet in Photoshop und verschiebt Fenster.

{youtube}5s5EvhHy7eQ{/youtube}

Der Trick: Im Wii-Controller unter der Projektionsfläche steckt eine recht leistungsstarke Infrarot-Kamera und registriert die Position des Stifts (Sie haben richtig gelesen: Der Wii-Controller enthält die Kamera, nicht die Konsole!). Die von Chung geschriebene Software verarbeitet die Signale und ermöglicht es, den Infrarotstift als Schreib- und Steuerwerkzeug zu nutzen.

In seinem TED-Vortrag formulierte Chung sein Credo, das auch für andere Hardware-Hacker gelten könnte: "Forscher erreichen bestimmte Ziele oft mit immensem Aufwand. Das ist wichtig für den technischen Fortschritt. Aber das bedeutet oft leider, dass nur eine Minderheit von diesen Entwicklungen profitieren kann. Mich reizt es, mit einfachen Mitteln diese Verteilung radikal zu ändern."

Und er rechnet vor: Eine interaktive Weißwandtafel kostet 2000 bis 3000 Dollar – ein Wii-Controller 40, die Infrarot-Leuchtdiode für den Stift 5 Dollar. Die Software für die Steuerung kann man kostenlos von Chungs Webseite laden.

Fernseher folgt auf Fingerzeig

Informatik-Doktorand Johnny Chung Lee hat mit der Fernbedienung von Nintendos Wii-Konsole neben der Billig-Variante der digitalen Weißwandtafel auch die Freihand-Computerbedienung aus dem Film "Minority Report" nachgebaut. Das Konstruktionsprinzip ist dasselbe wie bei der Wii-Weißwandtafel: Per Infrarotlicht verortet seine Software die Finger im Raum.

Der Technik ist simpel, funktioniert aber schon beim Prototyp bestechend gut: Eine Reihe von Infrarot-Leuchtdioden über dem Monitor strahlt Licht aus, Streifen reflektierenden Klebebands auf den Fingerkuppen werfen es zurück, die Infrarot-Kamera des Wii-Controller registriert die Punkte, gibt sie per Bluetooth an einen PC weiter, wo Lees Software die Bewegungen in Steuersignale umrechnet.

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Die Wii-Datenbrille ohne Brille

Noch ein Trick von Wii-Hacker Johnny Chung Lee: Eine Zeit lang waren Datenhelme sehr modern, die auf Minimonitoren die Bilder eines virtuellen Raumes der Kopfhaltung und Blickrichtung des Brillenträgers anpassten. So entstehen räumliche Effekte: Die Darstellung dreidimensionaler Räume auf dem flachen Monitor muss sich mit der Blickrichtung perspektivisch korrekt ändern.

Lee schafft das ohne Datenbrille: Er legt den Controller der Wii-Konsole in eine Halterung vor den Monitor, auf dem ein dreidimensionaler Raum zu sehen ist (siehe Video unten).

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Die Infrarotkamera in der Spitze des Controllers registriert, wo im Raum sich Infrarot-Leuchtdioden befinden. Leuchtdioden wie die in der Infrarotleiste der Wii-Konsole. Man könnte sich die einfach an eine Mütze kleben und auf den Kopf setzten, um Lees Experiment nachzuahmen. Die von ihm geschriebene Software, die das Testbild berechnet, verortet über die Infrarotkamera im Wii-Controller die Position der Infrarotleiste und passt das Bild perspektivisch korrekt an.

Im Demonstrationsvideo hält Lee die Infrarotleiste unter die filmende Kamera. Der Effekt: Die Gegenstände in Lees Testbild scheinen aus dem Fernseher in den Raum hineinzuragen.

Das iPod-Telefon

Apple iPod Touch sieht aus wie das iPhone – und auch im Inneren sind sich die beiden Geräte sehr ähnlich, abgesehen von Details wie Mikrophon, Mobilfunkantenne und -chipsatz. Aber in W-Lan-Drahtlos-Funknetzwerke kann der iPod Touch sich einwählen, warum sollte er nicht dann nicht als Internet-Telefon für den so beliebten VoIP-Standard zu benutzen sein?

Das fragten sich viele iPod-Fans, drei Hardware-Hacker aus Deutschland, Frankreich und Ungarn modelten im vorigen Dezember dann einen iPod zum Internet-Telefon um, schrieben eine Telefonie-Software, bastelten ein Mikrophon und installierten eine Anwendung zum Aufnehmen von Sprachnotizen.

Das Ergebnis: Inzwischen ist ein iPod-Einsteckmikro im Web für 30 Euro, ein Headset für 37 Euro zu kaufen. Kein Löten, kein Friemeln – Einstecken, iPod per Jailbreak knacken, Software installieren, VoIP – Anbieter auswählen (ein gutes Dutzend Anbieter-Konfigurationen wurde erfolgreich mit dem iPod-Telefon getestet) und fertig.


Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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