Gemeinsam einsam (Süddeutsche Zeitung, 18.3.2003)
Gemeinsam einsam
Eine Simulation soll berechnen, wie viele Touristen der Grand Canyon verträgt
Süddeutsche Zeitung, 18.3.2003
Wer zwölf Jahre wartet, darf sich maximal 22 Tagen wilder Romantik hingeben – und den Grand Canyon privat mit seinem Gummiboot durchfahren, als einer von nur 22000 Auserwählten im Jahr. Die Wartezeit für die gut 450Kilometer lange Strecke könnte kürzer und die Natur dennoch geschont werden, wenn eine neue Computersimulation hält, was Testläufe versprechen. Der „Grand Canyon River Trip Simulator“ berechnet in einer Viertelstunde alle Fahrten eines Jahres. Die Verwaltung des Nationalparks kann damit testen, wie sich Touristen verhalten, wenn zum Beispiel mehr Fahrten genehmigt oder manche Rastplätze gesperrt werden, und das ganz ohne Folgekosten, abgesehen vom Stromverbrauch eines einfachen Bürocomputers.
Catherine Roberts, begeisterte Schlauchbootfahrerin und Mathematikprofessorin am Holy Cross College in Worcester, hat das Programm entwickelt und an historischen Daten getestet. Mit den realen Nutzerzahlen, Vorschriften und Umwelteigenschaften der Jahre 1998 und 1999 gefüttert, berechnete der Computer zum Beispiel für jeden Tag und für jede Fahrtgruppe fast dieselben Durchschnittsgeschwindigkeiten, wie sie tatsächlich beobachtet wurden. Und daran lassen sich auch die Folgen für die Umwelt ermessen: Das Programm ermittelt sie ähnlich wie die Parkaufsicht, indem sie Dichte und Häufigkeit von Touristen an bestimmten Orten kalkuliert.
Um die Realität möglichst genau nachzubilden, hat Roberts einen speziellen Progammieransatz gewählt: Jede Fahrt wird von einem Programmmodul repräsentiert, einem „Agenten“, der stur die ihm eingegebenen Bedürfnisse verfolgt. Er will zum Beispiel lange Zeit einen schönen Felsen betrachten und danach an einem genügend großen Rastplatz übernachten; so sehen etwa die Prioritäten von Gruppen mit motorisierten Booten aus. Ob sie zu erfüllen sind, hängt von dem Daten-Canyon ab, den die Agenten durchlaufen. Ist ein ansprechender Rastplatz nah, kann der Agent die Sehenswürdigkeit ausgiebig „bestaunen“. Trifft er jedoch auf eine andere Gruppe, beginnt eine zähe Verhandlung über die Rastplätze: Dann fährt eine motorisierte Gruppe oft weiter als geplant, weil sie paddelnden Touristen den näheren Platz überlässt.
Um die nötigen Daten über die Absichten und Strategien der verschiedenen Rafting-Gruppen zu sammeln, hat Roberts 18Monate lang die Leiter von Flusstouren befragt. Sie erhielten am Anfang ihrer Fahrt ein Kartenbuch, in dem sie Rastplätze, Haltepunkte, Sehenswürdigkeiten und Ähnliches markieren und die Auswahl der Stopps begründen mussten. 487 solcher Tagebücher konnte Roberts auswerten, hinzu kamen zahlreiche Interviews mit Fahrern und den Rangern des Nationalparks.
Diese Daten verdichtete die Mathematikerin zu einer Bedürfnishierarchie der verschiedenen Agententypen. Für sich genommen sind sie keineswegs intelligent, doch ihre vielen sturen Verhandlungen machen in der Summe Komplexität greifbar. In der Forschung an Künstlicher Intelligenz werden solche Ansätze seit langem verfolgt. Doch bei der Simulation von Mensch-Umwelt-Wechselwirkungen sind agenten-basierte Modelle noch selten. Es gibt nur wenige, dafür aber vielversprechende Beispiele.
So erforscht zum Beispiel der Geograph Steven Manson an der University of Minnesota die Landnutzung auf der mexikanischen Yucatán-Halbinsel mit einem agenten-basierten Modell. Ein ähnliches Forschungsprojekt konnte 1991 die Bedeutung religiöser Rituale für Bewässerungssysteme auf Bali aufzeigen.
Randy Gimblett von der University of Arizona hat die Beziehungen zwischen erholungs- und natursuchenden Wanderern, Mountain-Bikern und Jeep- Fahrern im Broken Arrow Canyon des Nationalparks Sedona per Simulation nachvollzogen. Auch sein „Recreation Behaviour Simulator“ erfasst das menschliche Verhalten mit Hilfe von Agenten und die Umwelteigenschaften über ein detailliertes geographisches Informationssystem. Ein Ergebnis des Simulators: Im Broken Arrow Canyon verlaufen die Strecken für Mountain-Biker heute anders, weil Radfahrer und Wanderer bei der Simulation des alten Wegverlaufs häufig aufeinander trafen und es darüber in der Realität die meisten Beschwerden gab.
Auch Catherine Roberts glaubt, mit ihrem Simulator touristische Nutzung und Naturschutz im Grand Canyon besser verknüpfen zu können. Ein Mittel könnte eine Veränderung der so genannten Starttabellen sein, die mehr Nutzer und gleichzeitig weniger Gedränge erlaubt. Zum Beispiel sollten die motorisierten Boote nicht konzentriert am Wochenende starten, erklärt Roberts. „Diese Boote reisen meist als großer Schwarm den Fluss hinab. Das beansprucht die Umwelt weit mehr als eine größere, aber besser verteilte Menge.“
Trotzdem können die auf einen Trip durch den Grand Canyon harrenden Touristen nicht auf eine drastische Verkürzung der Wartezeit hoffen. Auch eine effizientere Nutzung kann das Grundproblem nicht lösen: Einige hunderttausend Menschen gleichzeitig wollen die Natur für sich allein haben. Pragmatiker wählen daher statt einer privaten Tour eine von kommerziellen Anbietern organisierte. Auf die muss man nur ein bis zwei Jahre warten.