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Geruchlos - Ein Nachruf auf die erste Kaffeemaschine im Netz (telepolis, 11.3.2001)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
2 minuten gelesen

Geruchlos

Ein Nachruf auf die erste Kaffeemaschine im Netz

telepolis, 11.3.2001

Die Kaffeemaschine war schuld. Es war im vergangenen Jahrzehnt unmöglich, das Internet zu nutzen, ohne zumindest einen Anflug des Hochgefühls zu verspüren, hier und jetzt würde die Menschheit vom Raum erlöst. Oder besser: ihr würden im grenzenlosen virtuellen Raum Freiheiten wiedergegeben, die im realen fehlten. All das kumulierte im Bild der weltweit übers Netz sichtbaren Kaffeemaschine der Cambridge Universität. Passend zum jetzt herbeigeredeten Niedergang des Internets wird sie nun abgeschaltet.

Noch schauen sich bis zu 2,4 Millionen Menschen die briefmarkengroßen Livebilder aus dem Computerlabor der britischen Universität an. Die Kaffeemaschine ist zum Kulturgut geworden, nicht zuletzt weil sie von der weltweit ersten Webcam betrachtet wurde.

Entstanden ist die Dauerüberwachung wegen der Beschränktheit des physikalischen Raumes. 1991 bastelten 15 Mitarbeiter in Cambridge an sogenannten ATM-Netzwerken, die sehr schnell Informationen zwischen Computer transportieren. Während die Hacker meist nachts die Daten der Universitätsrechner von technischen Grenzen befreiten, mussten sie selbst unter solchen leiden: Im gesamten Gebäude gab es nur eine Kaffeemaschine, die obendrein nicht allzu große Kapazitäten hatte. Es kam also oft vor, dass man nach einem zehnminütigen Weg vor einer leeren Maschine stand.

Programmierer kaufen in solche Fällen nicht etwa eine zweite Maschine. Es geht bei ihrem Job, für den gern auch Nächte geopfert werden, ja auch nicht darum, die einfachsten, sondern die elegantesten Lösungen zu finden. Also stellten sie 1991 einen Camcorder vor die Maschine und schrieben ein Programm, dass drei Mal in der Minute aktuelle Fotos auf einem Server ablegte. Dank dem Programm "XCoffee" kannte nun jeder den exakten Kaffeestand und konnte ihn gegen die Faktoren Müdigkeit, Brühdauer und Weglänge abwägen.

Die Freiheit begann beim Kaffeetrinken. Ein Blick zur vollen – und auch zur leeren – Maschine reichte, um im Netz Beschränkungen wie Geschlechterdifferenz, ethnische Zugehörigkeit, Alter, Reichtum und alle die anderen Hindernisse beim Flanieren durch den realen Raum verschwinden zu sehen. Der Cyberspace als gute Gesellschaft ungehinderte sozialer Mobilität.

Jetzt aber zieht das Computerlabor in ein neues Gebäude mit kürzeren Wegen und nun auch wohl zahlreicher vorhandenen Kaffeemaschinen. Die einst verschlungenen Pfade sollen verschwinden – der reale Raum sich dem virtuellen anpassen. Und sind nicht längst unserer Städte nach jenem Vorbild gebaut? Überdachte und überwachte Einkaufspassagen boomen – etwa die gerade in München fertiggestellten "Fünf Höfe". Hier existieren die früheren Einflüsse des realen Raums wie Wetter und Lärm nicht. Allerdings sind diese Orte auch frei von Müll, Straßenkünstlern, Losverkäufern, also von Urbanität. Beim Abbilden ist etwas verlorengegangen – so wie der Kaffeeduft im Netz.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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