Gesunder Byte in einem gesunden Körper (Süddeutsche Zeitung , 25.9.2001)
Gesunder Byte in einem gesunden Körper
Über die Abhängigkeit von Mensch und Technologie in der elektronischen Freizeit
Süddeutsche Zeitung , 25.9.2001
Das vielleicht stärkste Bild für die Beziehung zwischen Mensch und Technologie im Computerspiel ist ein Moment ihres Versagens. Das Rollenspiel „Ultima Ascension“ macht seine Spielwelt spürbarer als jeder Vorgänger: Mit einer leichten Drehung der Maus kann der Blick des Spielers in jede Richtung schweifen. Doch es ist leicht, an das Ende dieser Welt zu gelangen. Nach einigen geschickte Sprüngen über Klippen hinweg steht man unvermittelt in einer unendlichen grauen Weite. Hier hören alle Texturen auf, keine detaillierten grafischen Oberflächen liegen mehr über den Dingen.
Ein wenig erinnert dieser Moment an Josef Rusnaks Film „The Thirteenth Floor“, in dem Menschen einige Male an ein ähnlich physisches Ende ihrer Welt gelangen und hilflos feststellen, dass sie in einer Simulation gefangen sind. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen diesem filmischen Nachfühlen einer Spielwelt und ihrem tatsächlichen Erfahren in „Ultima Ascension“. Im Film ist der Mensch hilflos, ganz wie man sich für gewöhnlich die Gefangenen sogenannter virtueller Realitäten vorstellt. Doch im Spiel ist es die Technologie, die uns hilflos gegenübersteht. Aus der Gräue an ihrem Rand gibt es Wege, auf denen man unter die Oberfläche der Spielwelt zurückkehren kann.
Die Erklärung ist einfach: Das Programm berechnet einen dreidimensionalen Raum, nur haben die Programmierer nicht damit gerechnet, dass jemand über den Weltrand springt und unterhalb einer bestimmten Höhe zurückkehrt. Für das Erdinnere wurden dem Programm keine Informationen gegeben, weil hier eigentlich niemand verkehren soll. Die Technologie braucht den Menschen, um zwischen der Oberfläche der Dinge und ihrer Unterseite zu unterscheiden.
Ein Computerspiel ist das Ergebnis einer Wechselbeziehung zwischen Mensch und Technologie, nicht das einer einseitigen Abhängigkeit. Sehr deutlich war das bei ganz frühen Spielen. Da weder genügend Speicher noch Rechenkraft verfügbar waren, um den Computer zu einem Gegner oder Partner im Spiel zu machen, schuf er lediglich den Spielraum. So war es 1958 bei William Higinbothams „Tennis for Two“, dem wohl ersten Computerspiel überhaupt. Und auch 1962 bei „Spacewar!“ auf einem Großrechner des Massachusetts Institute of Technology (MIT) spielten zwei Menschen gegeneinander. Besser: Sie kämpften.
Es war ein Kampf zweier Gegner bis zur Vernichtung und der Ort dieser Schlacht zwischen zwei Raketen war das All. Hier erzählt "Spacewar!" von der Sehnsucht, im unberührten All eine auf der Erde nicht mehr gegebene Form der kriegerischen Auseinandersetzung wiedererstehen zu lassen: Den Krieg als regelhaftes Spiel.
Spätere Computer- und Videospiele zeigen, wie diese Sehnsucht auf dem Spielplatz der Wirtschaft erfüllt wurde. Das 1988 erschienene Strategiespiel „Modem Wars“ zum Beispiel. Der Gegner muss durch geschicktes Ressourcenmanagement und Truppenmanöver besiegt werden – der Gegner, das ist hier eine reale Person, mit deren Computer man über ein Modem verbunden ist. Ein Jahr vor „Modem Wars“ kam Oliver Stones Film „Wall Street“ in die Kinos. Mittels elektronischer Handelssysteme führen hier Aktienhändler wie Gordon Gekko und Bud Fox ihre ganz eigenen Kriege. Die Parallele zu „Modem Wars“ ist nicht zu übersehen: Der Computer als Waffe in einem großen Spiel.
Noch deutlicher wird die Beziehung zwischen Krieg, Wirtschaft, Spiel und Technologie in den arcades, jener besonderen amerikanischen Form der Spielhalle. Zu ihren Hochzeiten in den siebziger und achtziger Jahren erprobten hier Jugendliche die technisch neuesten Videospielautomaten in einer seltsamen Atmosphäre von Anonymität, Konkurrenz und sportlicher Kollegialität.
Ihren Selbstwert konnten die Spieler exakt über die erzielte Punktzahl, den sogenannten Highscore, beziffern. Der Spielantrieb bei Automaten wie „Pac- Man“ war die Angst, ein anderer könnte mehr Punkte erzielen. Hier werden die gemeinsamen Wurzeln des Computerspiels und der sogenannten neuen Wirtschaft im spielerischen Wesen des Computers erahnbar. Überhaupt ist eine wesentliche Eigenschaft des Computer das Verschwinden der Grenze zwischen Spiel und Arbeit. Erste Heimcomputer von Apple, Amiga, Commodore und Atari waren ebenso Spiel- wie Arbeitscomputer: Ihre Grafik- und Klangfähigkeiten sowie neue Schnittstellen wie die Maus verbesserten das Immersionserlebnis beim Spiel ebenso wie die Handhabung anderer Anwendungen.
Die über die Fähigkeiten damaliger Videokonsolen weit hinausgehenden Möglichkeiten dieser Computer machten das Programmieren in Sprachen wie Basic ebenso möglich wie die Konstruktion komplexerer Spiele. Selbst ein solch seriöses Unternehmen wie IBM bediente sich schon früh der Spielkultur des Computers. Der 1983 eingeführte Heim- und Schulcomputer „PCjr“ hatte im Vergleich zum Vorgänger verbesserte Grafikeigenschaften. IBM vereinbarte mit dem Spielehersteller Sierra, dass das Unternehmen ein Spiel speziell für den „PCjr“ entwickelte. „King's Quest“ war eines der ersten erzählenden Spiele, in denen der Spieler sich durch eine vollkommen grafische Welt bewegte.
Bis dahin waren allein Actionspiele grafisch, die erzählenden Genres funktionierten als Text oder als illustrierter Text – ähnlich wie auch die meisten ernsthaften Anwendungen für Computer damals. „King's Quest“ jedoch verband Text mit der Navigation durch Bildräume. Heute funktionieren die Schnittstellen der meisten Betriebssysteme so. Dateistrukturen werden als ähnlich duales System begriffen wie „King's Quest“: Der Name eines Ordners spielt ebenso eine Rolle wie seine räumliche Position im Pfadbaum.
Neue Spiele verwenden heute ganz andere Schnittstellen zur Navigation durch Daten. Das Strategiespiel „Black & White“ zum Beispiel findet bei aller Komplexität der präsentierten Daten und angebotenen Manipulationsmöglichkeiten nahezu ausschließlich in einer dreidimensionalen, intuitiv erfass- und durchstreifbaren Umgebung statt. Es gibt auch kaum Menüs mit Wortfragmenten, wie man sie aus Anwendungssoftware kennt. Das Spiel definiert Optionen durch ihren Kontext und kommt so mit einer einzigen Hand als Repräsentation des Spielers in der Spielwelt aus, mit der alles gesteuert wird.
Im Computerspiel wurden und werden Technologien erprobt. Mittlerweile haben zwar auch die Programmierer von Spielen eine Reihe standardisierter Werkzeuge zur Hand, doch muss immer noch sehr viel Code vollkommen neu gedacht und geschrieben werden. Spielsoftware unterscheidet sich grundsätzlich von den meisten Büroanwendungen. Diese haben eine bestimmte Grundfunktion, die im Lauf der Zeit und der Versionen um zahlreiche neue Elemente ergänzt und in bestimmten Punkten verbessert wird. Es ist diese kontinuierliche Evolution, die klassische Produkte wie „QuarkXpress“ so stabil macht.
Spielen jedoch liegt fast immer ein vollkommen neues und eigenständiges Konzept zu Grunde. Es um mehr als die Unterstützung neuester technischer Entwicklungen im Grafikbereich. Computerspiele haben so gut wie keine standardisierten Funktionen: Jedes Spiel ist eine Revolution, Kontinuität hat allein die Entwicklung. Alle Grundsätze stehen immer wieder von neuem zur Disposition. Die unzähligen upgrades und patches für Programme erzählen davon.
Doch die konstituierende Erweiterung des Spiels ist nicht neuer Code, sondern sein Spieler. Komplexität entsteht in Spielen dadurch, dass Output immerfort zu neuem Input wird, den ein Programm dann nach einer Vielzahl bestehender Gesetzmäßigkeiten bearbeitet. Und der Mensch, beziehungsweise sein Spiel, ist der ultimative Input. Mensch und Technologie sind im Spiel zwei gleichberechtigte Parteien einer Wechselbeziehung. David Cronenberg hat das in seinem Film „eXistenZ“ sehr konkret gezeigt. Menschen technisieren ihre Körper mittels künstlicher Anschlüsse im Rückenmark, um über diese Schnittstellen Computerspiele zu erleben, während Spielcomputer vermenschlicht aus künstlichem Fleisch gefertigt werden. Dass Technologie und wie Technologie vom Menschen abhängt, ist die beruhigende und spannende Botschaft des Computerspiels.
Dass der Mensch zuweilen nur als gleichberechtigte Variable im Spiel auftaucht, ist eine bedenkenswerte. Wir sind nicht in den Grenzen eines Computer gefangen wie die Helden von „The Thirteenth Floor“. Wir sind mit ihm vielmehr noch enger verbunden, als die Spieler in „eXistenZ“ über ihre künstlichen Nabelschnüre.