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Gomorrah am Güterbahnhof (taz-ruhr 24.06.1999)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

Gomorrah am Güterbahnhof

Auf Frühstückssuche am Samstagmorgen zwischen B 224 und S- Bahn

taz-ruhr 24.06.1999

Der Himmel hat die unerbittliche Düsterernis einer Felswand. Grau wie ein toter Fernsehkanal. Durch den Morgennebel kriechen Laster auf dem nassen Asphalt der B 224 Richtung Dorsten. Über den Schienen, auf denen sich ab und zu eine S-Bahn gen Essen Hauptbahnhof schiebt. An der Brücke liegt der Güterbahnhof. Und dort angeblich einer der wenigen Orte, wo kaputte Menschen am Samstagmorgen Frühstück, andere Unausgeschlafene und vielleicht die Fortsetzung der letzten Nacht finden. Micha's Kännchen.

Wir haben es nötig. Der Freitagabend stirbt mit der Morgendämmerung. Es ist fünf Uhr, es ist kalt und der Parkplatz zwischen Bundesstraße, Schienen und Lagerhallen voller Menschen. Sie stehen vor einem gemauerten Büdchen nebst Wohnwagen, umgeben von Schirmen und Holzbänken. Das Arrangement entpuppt sich als sagenumwobenes Kännchen. Ein Schild verspricht "Ab 5 Uhr morgens Musik und Tanz, Speis und Trank".

Der Wohnwagen fungiert als Garderobe. Ein bematteter und beohrringter Mitmensch wird dort gerade das Oberteil seines Jogginganzugs los. Und wir die Taschen. In Empfang nimmt sie Schorsch, ein netter Frührentner in Baskenmütze, Jeans und sich spannender Lederweste. Ein Klebeschild mit den Vornamen kommt auf die Taschen. Überall auf den gelblich- warm beleuchteten Holzwänden im Wohnwagen kleben gebrauchte Schildchen. "Ja, hier kommen viele Leute hin", meint Schorsch. Einem Taxi entsteigt ein in schwarzes Tuch gewandeter, braungebrannter Recke nebst Begleiterin in weißen Top. Penetrant duftet es süßlich-blumig. "In Abendgarderobe oder Sportanzug, wie sie von der Nacht übriggeblieben sind", lacht Schorsch hinterher.

Das Kännchen erzittert unter Gewummer und salopp dazwischengestreutem "Olé, olé". Wahrlich vielversprechend. Doch jetzt regnet es stark, also schnell durch die Personenkontrolle. Marcus, der nette Türsteher in schwarz-roter Lederjacke mit kurzen Haaren vorne und Matte hinten, findet diesmal keine Waffen. Also öffnet sich die Pforte und Michael, Namenspatron, Betreiber und Gründer des Kännchens seit zwölf Jahren, empfängt seine Gäste.

Ein paar Leute vom Ordnungsamt sollen heute dasein – privat. Der Legende nach schauen ab und zu gar einige WAZ- Redakteure vorbei, das Herz des Imperiums liegt ja fast nebenan. Über Anzugträger freut sich Michael: "Schön, wenn wir hier Arbeitslose und Begüterte mischen". Zum ungezwungenen Beisammensein tragen nicht unwesentlich die überall im Etablissement verteilten Sicherheitsmenschen bei. Micha gedenkt der Vergangenheit: "Früher gab es immer Streß in Frühstückslokalen, aber hier ist das anders."

Zum Frühstücken ist aber auch das Kännchen nicht vorrangig da, wie ein Blick in die Runde eröffnet. An der Decke konkurrieren ein Meer aus Kunstblumen und dazwischen weihnachtliche Leuchtketten um den ersten Rang in Kitsch und Trash. Eine Farbenexplosion, ungleich halluzinogener als der gewöhnliche LSD- Trip. Darunter feiert in Schwarzlicht getaucht die Gemeinde der hier Gestrandeten. Frühstück ist nirgends zu sehen, dafür geistige Tränke. Michaels Philosophie: "Hier kommen die Leute wieder richtig drauf, weil sie eh schon von der Nacht angesäuselt sind."

Jedoch leistet dem Kommando "put your hands up in the air" der Musikkonserve kaum einer Folge. In einer Ecke steht Harvey Keitels Bruder in grünem Jacket mit Rosen im Arm. Traurig schaut er drein, verkauft hat er noch keine.

Nur einer kurvt einsam tänzelnd durch den Raum auf sein Bier zu. Josef hat einen Oberlippenbart, eine blinkende Baseballkappe und auch allein seinen Spaß: "Hier kann ich so laut Musik hören wie ich will. Zuhause kommen ja immer die Bullen", ruft er und dann beim Glas angelangt setzt er hinzu: "Hier ist eine andere Welt."

In der bleibt kein Platz für Frühstück und sonstige bürgerlich Bräuche. Die mit grüner Pappe als solche etikettierte "Dancing- Hall" wird von Tanzvirtuosen mit oft erstaunlicher Bräune beherrscht, im Hinterraum klammert man sich an die Gläser. Immerhin präsentieren hier liebevoll geschmückte Glasvitrinen interessante Fotos der RWE- Amateure, und von Michael in Hamburg beim Fisch- Passl.

Ohne Nahrung, aber mit tiefem Einblick in die Klassenlage geht es hinaus. Michael lacht am Eingang: "Ja, hier vergißt man Zeit und Raum. Das ist Sodom und Gomorrah. " Immerhin hat Josef mittlerweile eine leicht zerknitterte Schönheit aufgetan.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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