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Halbnackt in San Francisco: Google entblößt Ahnungslose (Spiegel Online, 1.6.2007)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

Halbnackt in San Francisco

Google entblößt Ahnungslose

Der Internet-Konzern Google hat San Franciscos Straßen abgefilmt und präsentiert die Bilder jetzt in seinem Atlas Google Maps. Leider sind darauf auch sonnenbadende Bikini-Mädchen, Nasenbohrer und Pornokino-Besucher zu sehen – allesamt ahnungslos abgelichtet.

Spiegel Online, 1.6.2007

Mary Kalin-Casey ist sauer. Die Hausverwalterin aus dem kalifornischen Oakland hat wie viele Web-Nutzer diese Woche Googles neuen Dienst Street View ausprobiert. Google hat die Straßen ihrer Stadt – und die von San Francisco, der Bay Area, New York und Las Vegas – fotografiert. Kalin-Casey will sehen, wie hier ihr Haus aussieht. Also tippt sie ihre Adresse ein, zoomt sich an das hellgelbe Haus heran und erschrickt: Das Fotomaterial ist so detailreich, dass Kalin-Casey durch ihr Wohnzimmer-Fenster in der zweiten Etage ihren Kater Monty erkennen kann, der auf seinem Katzenbaum sitzt.

Kalin-Casey hat Angst, sie protestiert, sagt der "New York Times": "Wo zieht man die Grenze zwischen dem Fotografieren öffentlicher Plätze und dem Heranzoomen ins Privatleben anderer Menschen?" Wie detailreich das Bildmaterial von Street View ist, demonstrieren schon ganz harmlose Beispiele: Auf dem Marina Drive vor der Golden Gate Bridge in San Francisco sieht man einen Isuzu Geländewagen stehen, Kennzeichen 4WAM538. Ein blonder Mann mit Sonnenbrille beugt sich über die Motorhaube, ein runder älterer Herr steht mit einem Jungen an der offenen Fahrertür.

Ein harmloses Beispiel – schließlich sind die drei vollständig bekleidet und wahrscheinlich haben sie nichts dagegen, gemeinsam gesehen zu werden. Gefragt hat sie aber niemand.

Google ist sich dieser Problematik offensichtlich bewusst. Mit zwei Mausklicks kann jeder Street-View-Nutzer "unangemessene Inhalte" melden. Als mögliche Gründe gibt Google unter anderem vor: Verletzung der Privatsphäre, Gefährdung der persönlichen Sicherheit. Auf die Vorwürfe, Street View verletze generell die Privatsphäre der fotografierten Passanten, reagierte Google hingegen schmallippig mit folgender Stellungnahme im IT-Fachdienst Cnet: "Street View zeigt nur Fotos, die im öffentlichen Raum aufgenommen wurden. Diese Bilder unterscheiden sich durch nichts von den Dingen, die jedermann sehen und fotografieren kann, wenn er eine Straße entlanggeht."

Das stimmt – nur können solche Eindrücke von Passanten nicht verlinkt und millionenfach auf Webseiten verbreitet werden. Genau das aber passiert gerade mit den pikantesten und peinlichsten Bildern aus Street View.

Für Kalin-Casey hat Google ihre Privatsphäre mit dem Blick ins Wohnzimmer eindeutig überschritten. Was aber sollen erst die Menschen sagen, die für Googles neues Fotoreservoir unwissend im Bikini, beim Bohren in der Nase oder vor einem Pornokino fotografiert wurden?

Im Studentenwohnheim der Elite-Uni Stanford haben sich die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin kennengelernt. Googles Firmensitz liegt heute nur ein paar Kilometer vom Campus entfernt in Mountain View. Kein Wunder, dass das Street-View-Team den halben Campus der Hochschule des Silicon Valley von den Straßen aus fotografiert hat. Offensichtlich ist das an einem sehr warmen Tag passiert – Street-View-Nutzer haben schon zwei sonnenbadende ( 1, 2) Studentengruppen ausgemacht, die nichts von der Google-Fotoaktion wussten und nun halbnackt im Internet zu sehen sind.

Das New Century Kino in San Francisco beschreibt auf seiner Internet-Seite sehr genau, was Besucher in der Larkin Street 816 erwarten können: "Lap Dancers", "Videokabinen", "VIP Lounges" und "Non-Stop Bühnenshows". Noch direkter heißt es da: "Bringen sie eine (oder zwei!) Frauen ihrer Träume in einen unsere Themenräume." Wie peinlich, wenn man vor dem Eingang dieses Etablissements fotografiert wird. Diesem Mann ist das passiert – er könnte auch nur gerade zufällig hier vorbei gekommen sein – aber das Bild auf Google Street View vermittelt einen ganz anderen Eindruck. Eindeutiger ist der Fall eines Besuchers des "Adult Book Store" in Oakland – er betritt eindeutig diesen Landen. Google liefert auch gleich einen Link zu einer Rezension beim Bewertungs-Portal Yelp mit. Dort kann man nachlesen, dass es beim "Adult Book Store" nicht nur Erwachsenen-Literatur, sondern auch Vibratoren, Poppers und Achtziger-Jahre-Pornofilme zu kaufen gibt.

Man muss gar nicht von Googles-Kamerawagen halbnackt im Fenster beim Zuziehen der Vorhänge erwischt worden sein. Es gibt viele harmlose, ebenso peinliche Alltagssituationen, die Google fotografiert, archiviert und ohne die Betroffenen zu fragen veröffentlicht hat. Da kann man einen alten Mann in San Francisco beim Nasebohren beobachten. Oder einen Passanten, der in sehr verdächtiger Haltung vor einer Hecke steht und sich womöglich gerade erleichtert.

Was sie da fotografieren, werden Googles Straßen-Foto-Teams nicht bemerkt haben. Die eingesetzten Fahrzeuge – zum Teil auch vom Drittanbieter Immersive Media betrieben – brauchen nur einen Fahrer. Das Fotografieren übernimmt eine vollautomatische 360-Grad-Kamera auf dem Dach. Das Gerät fotografiert mit elf Linsen bis zu 30 Mal in der Minute. Der Fahrer selbst konzentriert sich auf den Verkehr, nicht auf die Motive, die am Straßenrand vorbeigleiten.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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