Zum Inhalt springen

H.G. Wells und Schatzinsel-Stevenson: Die vergessenen Game-Designer (Spiegel Online, 10.7.2009)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

H.G. Wells und Schatzinsel-Stevenson

Die vergessenen Game-Designer

Zeitmaschine-Autor H. G. Wells machte aus dem Kriegsspiel-Hobby einiger Militärs populäre Unterhaltung. Sein Spiel “Little Wars” hat Tabletop- und Fantasy-Rollenspiel ermöglicht. Der Spieldesigner Wells hatte eine wichtige Erkenntnis: extreme Realitätsnähe muss nicht sein.

Spiegel Online, 10.7.2009

Krieg der Welten natürlich. Und: Die Zeitmaschine. Beim Namen H. G. Wells fallen den meisten Menschen die Science-Fiction-Romane des britischen Schriftstellers ein. Die übrigen seiner mehr als 100 Romane und Sachbücher muss man vielleicht nicht unbedingt kennen. Aber dass Wells eine wichtige Figur in der Geschichte der Strategie- und Rollenspiele ist, ist zu Unrecht in Vergessenheit geraten.

Wells hat ein Jahrhundert, nachdem preußische Militärs das Kriegsspiel ersannen, das kleine Büchlein “Little Wars” veröffentlicht. Das Besondere daran: Wells war der erste Autor, der das preußische Kriegsspiel zu einer reinen Freizeitveranstaltung ohne jeden Vorwand der Nützlichkeit weiterentwickelte. Dem preußischen Kriegsrat Georg Leopold von Reiswitz ging es 1811 darum, “denkwürdige Schlachttheater” in ein Zimmer zu “zaubern”, um taktische Fähigkeiten zu trainieren.

Wells wollte einfach ein unterhaltsames Spiel schaffen, das “zwei oder vier Amateure an einen Nachmittag und Abend mit Spielzeugsoldaten durchspielen können”, wie er in “Little Wars” schreibt.

Mit “Little Wars” popularisierte Wells Spielmechanismen, ohne die Pen&Paper-Rollenspiele nicht denkbar wären und die heute noch Tabletops, Computer-Strategiespiele wie “Warcraft”, “Total War” und Online-Rollenspiele wie “World of Warcraft” prägen (siehe Kasten unten).

 

ROLLENSPIEL – TRADITION UND DIE WICHTIGSTEN BEGRIFFE
Traditionslinien
Die 200-jährige Entwicklung von der preußischen Kriegsspiel-Kommode bis zu Online-Rollenspelen verläuft extrem verkürzt so: Erst trainierten preußische Militärs an Kriegsspiel-Kommoden, dann vereinfachte der britische Autor H.G. Wells (“Die Zeitmaschine”) 1911 das Kriegsspiel-Konzept zu einem Tabletop-Gesellschaftsspiel und in den sechziger Jahren entwickelten einige Tabletop-Spieler die Regelwerke weiter, um in der Rolle erdachter Charaktere durch Fantasy-Welten zu streifen. Und als Computer schnell und billig genug waren, digitalisierten ein paar Fantasy-Begeisterte die Rollenspiel-Mechanik.
Pen&Paper-Rollenspiel
Bereichnet alle mit Würfeln, Papier, Stift und Regelwerken gespielten Rollenspiele. Ein menschlicher Spielleiter beschreibt den Spielern die Welt, in der ihre Charaktere unterwegs sind. Er verkörpert alle Figuren, auf die sie treffen, erzählt den Spielern, wie die Phantasiewelt auf ihr Handeln reagiert. Ein Regelsystem, mehrere Würfel und die numerisch festgehaltenen Stärken, Kenntnisse und Fertigkeiten der Charaktere geben dem Spiel eine objektive Basis und ein gewisses Zufallsmoment.

Tabletop
Bei diesen sogenannten Konfliktsimulationen spielen die Teilnehmer mit Miniaturarmeen auf dreidimensionalen, liebevoll nachgebauten Schlachtfeldern nach umfassenden Regelwerken Schlachten – in historischen Settings, Fantasy- oder Science-Fiction-Welten.

MUD
Abkürzung für Multi User Dungeon. Ein Textadventure, in dessen Spielwelt sich mehrere Spieler zugleich von verschieden Rechnern aus bewegen und miteinander statt nur mit der Software spielen können. Das erste MUD spielte in einer Fantasy-Welt mit Wäldern, Geheimgängen, Monstern und Magiern. Im Oktober 1978 begann an der University of Essex der Student Roy Trubshaw, das textbasierte Spiel zu programmieren – und legte, ohne es zu wissen, den Grundstein für eine ganze Industrie.

Wells’ – damals schon ein bekannter Schriftsteller in Großbritannien – Regelbüchlein erregte 1913 Aufmerksamkeit. Ein illustrierter Artikel in der Wochenzeitung “Illustrated London News” von Anfang 1913 (siehe Foto oben) zeigt Wells bei einer Partie “Little Wars”. Die Zeichnung veranschaulicht auch ganz gut, wie das Spiel funktioniert hat: Der Autor sitzt auf dem Fußboden in einer Spiellandschaft mit Bäumen, Häusern, Kavallerie und Kanonen (die tatsächlich Spielzeug-Katapulte sind).

Er hält einen Faden oder ein Maßband in der Hand, mit dem bestimmt wurde, wie weit sich Figuren bei einem Spielzug bewegen dürfen. In der Bildmitte sieht man den Spielleiter, der auf einer Uhr die Zeit für den Spielzug stoppt. Der aufgezogene Vorhang zwischen Wells und seinem Gegenspieler rechts war vor Spielbeginn geschlossen – damit die Spieler ihre Figuren unbeobachtet vom Gegner aufstellen konnten.

Eine Spielwelt aus Pappe, Bauklötzen und Gestrüpp

Wells’ ” Little Wars” vereinfacht in vielen Punkten das militärische Kriegsspiel. Statt maßstabsgerechter Karten als Spielfläche empfiehlt er, mit etwas Phantasie Landschaften auf dem Fußboden nachzubauen. Wells hatte das schon in seinem 1911 erschienenen Büchlein ” Floor Games” ausführlich beschrieben. In “Little Wars” erklärt er noch einmal kurz, wie er mit einem Freund Landschaften aus Gartensteinen, Bauklötzen, Pappe und Gestrüpp zaubert. Wells: “Jeder Junge, der einmal ein Modellbau-Dorf errichtet hat, weiß wie das geht.”

Beim Spielablauf mischt Wells das klassische rundenbasierte Hin-und-Her mit einem beschleunigenden Regelelement, das man vielleicht als Vorgriff auf Echtzeitstrategiespiele sehen kann: Wells’ Regeln schränken die Zeit ein, die Spieler haben um ihre Figuren zu bewegen: “Etwa eine Minute sollte einem Spieler zugestanden werden, um 30 Mann zu bewegen und dann noch eine Minute für jede Kanone. Für einen Spielzug mit 110 Mann und drei Kanonen sollte der Spielleiter einem Spieler also sieben Minuten zugestehen.”

Die Kampfregeln hat Wells stark vereinfacht: Wenn zwei gegnerische Truppenteile aufeinandertreffen (weniger als 15 Zentimeter Abstand auf dem Spielfeld), kommt es zu einem “Handgemenge”. Sieger und Verlierer werden ganz ohne Würfel, allein nach Auszählen der Mannschaftsstärken bestimmt.

Perfektes Spiel statt perfekter Simulation

Anders als die preußischen Militärs, die beim Kriegsspiel die Fitness und Moral einzelner Truppenteile mit verschiedenen Zahlenwerten differenziert angaben, wollte Wells das Spiel so weit es geht vereinfachen, um es massentauglich zu machen. Wells schreibt: “Während wir die Landschaft der Spielfläche perfektioniert haben, strichen wir aus dem Spielablauf alle Eintönigkeiten, Unklarheiten und Sackgassen.” Der Einfachheit halber habe man sich entschieden, dass “jeder Mann gleich geschickt und mutig” sein soll.

Diese Erkenntnis Wells’ war ungeheuer wichtig für die weitere Entwicklung und Popularisierung der späteren Tabletop- und Rollenspiele: Der Game-Designer erkannte, dass der Entwickler eines Spiels ein anderes Ziel hat als Militärs beim Kriegsspiel. Wells wollte nicht die bestmögliche und extrem detaillierte Simulation sondern ein funktionierendes, also unterhaltendes und fesselndes Spiel schaffen.

Wells analoge Aufbausimulation

Ihm waren der Aufbau des Spielfelds und das Schlüpfen der Spieler in ihre Rollen mindestens ebenso wichtig wie die Regeln zum Abwickeln der Spielzüge. Wells hat vor “Little Wars” ein Buch (“Floor Games”) über den Aufbau von Spiellandschaften mit Baumrinde, Blättern, Brettern, Bausteinen, Pappe und Knete geschrieben. In diesem Band ist Konstruktion der Phantasiewelten so wichtig wie die eigentliche Spiele, die Wells darin mit seinen beiden Söhnen spielte – so eine Art frühe, analoge Aufbausimulation.

Wie wichtig Wells das schauspielerische Engagement fürs Gelingen eines Spiels einschätzte, zeigt eine Passage in “Little Wars”, in der er den Verlauf einer Spielpartie beschreibt. Wells beginnt so:

“Und nun verwandelt sich Ihr Autor, in den, der er unter anderen Bedingungen vielleicht hätte werden können. Seine tintenbeklecksten Finger werden zu großen, männlichen Händen, der gebeugte Gelehrtenrücken wird gerade (…), sein Bart wächst und eine große, rote Narbe – eine Säbelwunde – wird unter seinem Auge sichtbar.”

Wells gibt beim Spiel den alten Haudegen – so wie der Autor der Schatzinsel Robert Louis Stevenson Jahrzehnte zuvor in einem überlieferten Kriegsspiel mit seinem Stiefsohn Samuel Lloyd Osbourne. Stevenson hat nie eine Spielanleitung geschrieben. Dass er das preußische Kriegsspiel adaptierte, ist nur überliefert, weil Osbourne Jahre später, 1898, in einem Artikel im ” Scribner’s Magazine” die Spielpartien mit Stevenson beschrieb und Texte über die Schlachten aus den Notizbüchern des verstorbenen Stevensons veröffentlichte.

Die exakten Regeln von Stevensons Variante des Kriegsspiels sind nicht überliefert, sie dürften aber noch weit komplizierter gewesen sein als die von Wells.

Stevensons Stiefsohn Osbourne erinnert sich an “unzählige Regeln, lange arithmetische Berechnungen, Würfeln”. Aber viel stärker in Erinnerung sind ihm die verschiedenen Rollen geblieben, in die Stevenson schlüpfte: “Potty, Pipes und Piffle waren für mich sehr wirklich damals und lebten wie echte Menschen auf diesem dunklen Dachboden.”

Das ist wohl das größte Kompliment, das Spieler machen können. Ob Wells den 1898 in einem US-Magazin erschienenen Artikel über Stevensons Kriegsspiele kannte, ist nicht bekannt. Er hat in “Little Wars” jedenfalls das klassische, von Militärs mit ganz anderen Zielen entworfene Kriegsspiel weiterentwickelt, popularisiert und umgedeutet.

Am Ende seiner kleinen Spielanleitung schreibt Wells einen “beunruhigenden und ärgerlichen Satz für die Bewunderer und Praktizierenden des Großen Kriegs (…): Wer ‘Little Wars’ drei oder vier mal gespielt hat, erkennt, was für eine verpfuschte Angelegenheit der Große Krieg sein muss”, mit all den “zerschlagenen und blutüberströmten Körpern, zerstörten Gebäuden und alltäglichen Grausamkeiten.”


Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
Immer gut: Newsletter abonnieren


auch interessant

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Der common senf aktueller Debatten um Staatsausgaben, Tarifverhandlungen und Zinspolitik scheint mir gerade ein gefährlicher: Alle sollen sparen. Der Staat soll weniger ausgeben und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Arbeitnehmer sollen Reallohnverluste akzeptieren, sparen und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Und Unternehmen sollen sparen, bloß keine Kredite aufnehmen für Investitionen

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Paradox der Gegenwart

Einerseits sehen so viele Menschen ihre individuellen (Konsum)Bedürfnisse als das wichtigste Gut, als absolut schützenswert. Überspitzte Maxime: Was ich will, ist heilig – alles geht vom Individuum aus. Andererseits erscheint genauso viele Menschen das Individuum ganz klein, wenn es darum geht, etwas zu verändern in der Welt. Überspitzte Maxime: Ich

Paradox der Gegenwart

Wie Schmecken funktioniert

Gelernt: Geschmack und Aroma sind zwei ganz unterschiedliche Wahrnehmungen. Für jede ist ein anderer Teil im Gehirn verantwortlich. Und jede basiert auf unterschiedlichen Daten: Für den Geschmack kommen Eindrücke von der Zunge, fürs Aroma von Rezeptoren in der Nase. Beides vermischt das Gehirn zum Gesamteindruck Schmecken. Sehr lesenswerter Aufsatz darüber

Wie Schmecken funktioniert