Hippe Handarbeit: Hacker zu Stricklieseln (Spiegel Online, 25.5.2007, mit Christian Stöcker)
Hippe Handarbeit
Hacker zu Stricklieseln
Aus den USA schwappt ein Trend nach Deutschland, der uralte Tugenden wiederbelebt: Häkeln und stricken, bauen und basteln sind plötzlich in – die Hacker der Internet-Ära werden zu High-Tech-Handarbeitern. Dabei entsteht Skurriles, Bizarres und oft Zauberhaftes jenseits des Massenmarktes.
Spiegel Online , 25.5.2007 (mit Christian Stöcker)
Eine vergoldete Audiokassette als Gürtelschnalle. Ein rollendes viktorianisches Haus, angetrieben mit Dampf. Speichenbeleuchtung für Fahrräder, die im Vorderrad einen fliehenden Geist und hinten einen hungrigen Pacman erscheinen lässt. Strick-Überzüge für Parkuhren und Brückenpfeilern als wollig-befristeter Graffiti-Ersatz. Gehäkelte Comichelden. In den USA vollzieht sich zur Zeit eine bizarre, technikverliebte Revolution: Nerds und Hacker werden zu Heimwerkern – und die Strick- und Häkelfans von gestern zu den Markt-Avantgardisten von morgen. Handarbeit ist wieder hip.
Der Trend schwappt gerade nach Deutschland, in den USA ist er schon
Mainstream. "Ich sehe, dass sich eine starke Do-it-yourself-Kultur
entwickelt", sagt Wired-Chef und Buchautor Chris Anderson ("The Long
Tail") SPIEGEL ONLINE. In seinem Blog GeekDad
reichen die Themen von maschinell bemalten Ostereiern bis hin zu der
Frage, wie man in einer Mikrowelle Metall zum Schmelzen bringt.
Web-Pionier Tim O’Reilly
rief im SPIEGEL-ONLINE-Interview
schon im vergangenen Herbst das Zeitalter der Hardware-Hacker aus: "Wir
betreten eine neue Welt." In seinem Verlag erscheinen die Zeitschriften
"Make" und "Craft" – projektorientierte Bastler-Blätter, Strickmuster und Modellflugzeuge für die Eltern und Kinder des Internets.
Überwachungsflugzeug aus Lego
Bei einer "Maker Faire", einer der Bastlermessen, die O’Reillys
Leute nun regelmäßig organisieren, trafen vor ein paar Tagen in San
Francisco Fans alter Flipperautomaten auf Menschen, die aus Bohrern und
Kettensägen Rennautos bauen, der Erfinder eines "3-D-Zucker-Druckers"
auf ein vielköpfiges Team, von dem das erwähnte
viktorianisch-architektonische Dampfvehikel entwickelt wurde.
"Wired"-Chef Anderson war auch da – mit seinen Kindern und einem
ferngesteuerten Überwachungsflugzeug, vom Familienteam mit Hilfe von
Lego Mindstorms gebaut. Insgesamt kamen in zwei Tagen 40.000 Besucher
zu dem Tech-Jahrmarkt.
Die Kinder des Web strömen also zurück in die wirkliche Welt, ins
Freie, in Kellerwerkstätten und Geräteschuppen. Und wie in einer
Zangenbewegung kommen die angestammten Bewohner der Bastelstuben und
Heimwerker-Labore ins Netz, um die globale, oder doch wenigstens eine
lokale Öffentlichkeit für ihre Schöpfungen zu begeistern.
"Das Web hat meine Arbeit nicht verändert, sondern sie überhaupt
erst möglich gemacht", sagte Kathrin Pöhlmann. Die Mittzwanzigerin, die
in Unterfranken in einem ländlichen Idyll lebt, ist die Gründerin von
"Nähzimmer". Das Familienunternehmen stellt Produkte für den
individuellen Geschmack her – zum Beispiel Wickeltaschen für junge
Mütter. Pöhlmann verkauft ihre Waren über das Internet. Und zwar
inzwischen nicht mehr über ihre eigene Webseite, sondern über ein
Angebot namens Dawanda.
Kleine Strickpuppen und Computer aus Holz
Dawanda ist eine
Handelsplattform für Selbstgemachtes, gewissermaßen ein Ebay für
Kunsthandwerker – und für Kunden, die nach Individualität und einem
persönlichen Bezug zum Produkt suchen. "Kunden, die uns über Dawanda
finden, wissen, was sie wollen", sagt Pöhlmann, "das sind Kunden denen
ich nicht mehr erklären muss, dass hinter dem Nähzimmer kein großes
Unternehmen steht."
Das Vorbild für Dawanda heißt
Etsy und stammt aus
den USA. Etsy-Gründer Robert Kalin ist ein Paradebeispiel für den
Handarbeits-Hacker von heute: Er liebt kleine, makabre Strickpuppen –
und baut selbst Computer so um, dass sie aussehen wie ausgehöhlte
Dual-Plattenspieler aus den Siebzigern, mit Holz und orangefarbenenem
Plexiglas.
Kalin wirkt wie ein Elfenmann aus einem Fantasyfilm, ein zierlicher
Mittzwanziger mit rotblondem Wirrschopf und blitzenden Augen. Wenn er
über seine Vision spricht, glaubt man, einem religiös Beseelten
zuzuhören: "Diese Bewegung ist größer als alle Walmarts dieser Welt",
sagt er. "Das hier ist viel mehr als ein kleiner Trend und auch keine
vorübergehende Mode."
Die Menschen, ist der passionierte Bastler überzeugt, haben die Nase
voll von Massenproduktion und der zwangsläufigen Entfremdung von
Produzent und Konsument: "Das Internet ist für mich ein sehr
subversives Medium, und es hat bereits begonnen – nach nur 10 Jahren –
die Weltwirtschaft und Unternehmen fundamental zu verändern, dem
Einzelnen Macht zurückzugeben."
Stöbern in animierten Farbklecksen und Zeitspiralen
Die
Techno-Humanisten, die Wikipedia, Open-Source-Software und
Craigslist
als Vorboten einer besseren Zukunft betrachten, entdecken in Etsy,
"Make" und Geekdad.com die Hardware-Entsprechung der
Software-Revolution des vergangenen Jahrzehnts. "Das Internet ist zu
einem Nischenmarkt geworden", sagt Malte Gösche, einer der Gründer der
Produktempfehlungsseite iliketotallyloveit.com, "in dem jedes Produkt, sei es noch so skurril, gefunden und bestellt werden kann."
Etsy ist auch als Plattform die Verkörperung der unerwarteten Allianz
aus Technikfreak und Strickliesel, die sich da gerade formiert: Auf der
Seite gibt es Häkeldeckchen, Kristallschmuck, Holzschüsseln und
Tonskulpturen – präsentiert in fast schmerzhaft hippem Webdesign, mit
einer Funktionalität, die "Web 2.0" schreit und es gleichzeitig mit
technolgischen Tricks schafft, eine Art Schaufenster-Shoppen im Browser
zu ermöglichen. Man kann auf der Etsy-Seite in animierten Farbklecksen
herumstöbern und sich farblich passende Produkte vorführen lassen oder
in eine Zeitspirale aus Produktfotos eintauchen, die Angebote nach
Einstell- oder Verkaufsdatum sortiert aus dem Bildschirm sprudeln
lässt.
Neue Sockenstrickmenschen für Kunden ohne Oma
Gleichzeitig betont das Webdesign die soziale Komponente dieser Art
von Handel – sogar hübsch animierte Netzwerke aus Verkäufern kann man
sich anzeigen lassen, verknüpft mit kleinen Fotos von deren Produkten.
"Wir nutzen das Web", sagt Kalin, "um den Produzenten und den
Konsumenten wieder zusammenzubringen."
Die Propheten der Bewegung haben für dieses uralte Prinzip den Begriff "social commerce"
geprägt – darunter fällt Etsy ebenso wie Produkt-Empfehlungsseiten wie
das deutsche Projekt iliketotallyloveit.com oder die nutzergetriebene
Preissuche von dealjaeger. Gemeinschaftlich shoppen wider die Entfremdung. Am stärksten aber ist social commerce, wenn Produkt, Käufer und Verkäufer die wohlige Wärme selbstgehäkelter Hüttenschuhe eint.
Kathrin Pöhlmann formuliert es so: "Es hat nicht mehr jeder eine
Oma, die Socken stricken kann. Deshalb sucht man sich jetzt eben neue
Sockenstrickmenschen." Johanna Cenit, die über Dawanda handgemachtes
Porzellan verkauft, sagt: "Ein persönliches Feedback, das Achtung und
Freude an dem Objekt vermittelt, ist unglaublich wichtig." Man mache
eben "keine Joghurtbecher", so die 38-Jährige, "sondern gibt ein Stück
von sich, das man geliebt wissen möchte und dessen Anerkennung oder
Kritik einen direkt betrifft."
Dawanda hat das Etsy-Prinzip recht erfolgreich in die bislang eher
von Kunsthandwerkermärkten geprägte deutsche Szene übertragen, wenn
auch mit weniger aufwendigem Webdesign als das US-Vorbild. Der Trend
zum Selbermachen sei ein langfristiger, glaubt Claudia Helming, die
Dawanda gemeinsam mit Michael Pütz gegründet hat: "Es passiert schon
seit mindestens 15 Jahren etwas in diese Richtung, wie bei allen Trends
wird dieser aber erst zum Massenphänomen oder massentauglich, wenn
dafür die notwendigen Strukturen geschaffen werden."
Bei Dawanda böten mittlerweile über 1.700 Verkäufer etwa 10.000
Produkte an. Der soziale Aspekt sei nur die eine Hälfte: "Während zwar
auf der einen Seite bei Massenprodukten der Preiskampf regiert,
entwickelt sich parallel zunehmend die Lust an Dingen, die sonst keiner
hat. Die genauso einzigartig sind, wie der Mensch, der sie kauft."