Ich und die Egoshooter (Neue Züricher Zeitung, 24.5.2002)
Ich und die Egoshooter
Geschichte und Kultur des Videospiels
Neue Züricher Zeitung, 24.5.2002
Es mangelt derzeit nicht an selbsternannten Experten, die zwischen Computerspiel und Jugendgewalt einen kausalen Zusammenhang konstruieren. Ein solcher Zusammenhang kann allerdings empirisch nicht nachgewiesen werden. Die Vermutung liegt nahe, dass jene, die über Computerspiele reden, und jene, die Computerspiele spielen, verschiedenen Menschengruppen angehören. In der Londoner Barbican Gallery können sie sich treffen: 150 Computer- und Videospiele und 100 andere Exponate vermitteln hier mehr als vier Jahrzehnte Kultur und Geschichte der Videospiele.
Die Spitzen der Hochkunst gibt es hier sonst zu sehen, jetzt müssen die Besucher spielen: 150 Computer- und Videospiele und 100 andere Exponate in der Londoner Barbican Gallery sollen auf 1500 Quadratmetern Ausstellungsfläche mehr als vier Jahrzehnte Kultur und Geschichte der Videospiele vermitteln. «Game On» ist weltweit die erste Ausstellung, die sich in einem renommierten Haus mit diesem Anspruch an das Thema heranwagt. Warum diese Ausstellung wichtig ist, begründet der Spieledesigner Eric Zimmermann so: Menschen, die noch nie gespielt haben, sollen mit ein wenig Geschichtskenntnis Videospiele als epochales kulturelles Ereignis entdecken; Spieler hingegen müsste etwas historisches Bewusstsein dazubringen, den Stand der Dinge zu hinterfragen.
Das Computerspiel ist fast so alt wie der Computer. Von Anfang an hingen die inhaltlichen Möglichkeiten der Spiele von der Entwicklung der Computertechnik ab; umgekehrt reflektieren die Spiele diesen Entwicklungsstand, zeigten bisweilen völlig neue Anwendungsmöglichkeiten der Technik. Der Physiker William Higinbotham hat 1958 zum Tag der offenen Tür des amerikanischen Forschungszentrums «Brookhaven National Laboratory» das Spiel «Tennis for Two» konstruiert. Auf einem Oszilloskop bewegten die Spieler einen weissen Punkt mit Hilfe eines schokoladentafelgrossen Steuerkastens. Gemäss Überlieferung war die Menschenschlange vor Higinbothams Spiel länger als vor allen anderen Attraktionen.
Leider fehlt «Tennis for Two» in der Londoner Ausstellung. Das Original hat Higinbotham selbst sehr bald zerlegt, um die Bauteile anderswo zu verwenden. Das zeigt, warum «Game On» wichtig ist: Ohne die hier gezeigte, zum Teil jahrzehntealte Technik bleibt die Überlieferung der Spielgeschichte immateriell und unvollständig. Deutlich macht dies der in London ausgestellte DEC-PDP-1-Computer. Auf diesem Rechner lief 1962 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) das Computerspiel: «Spacewar!». Heute gibt es weltweit vielleicht noch zehn funktionierende Exemplare dieser Computer.
In «Spacewar!» kämpfen zwei Raumschiffe mit begrenztem Treibstoffvorrat gegeneinander. Die Spieler steuern ihre Schiffe mit je vier Knöpfen an der Bedienungskonsole der PDP-1. Eine Foto zeigt zwei der Programmierer leicht vorgebeugt neben der Maschine stehen und etwas skeptisch auf den Bildschirm schauen, als wäre es ihnen nicht ganz geheuer, dass so teure Technik auch blosser Unterhaltung dienen kann. «Spacewar!» ist ein Spiel seiner Zeit: Wie in der damaligen US- Gesellschaft war das Weltall der Raum, in den die kollektiven Träume und Sehnsüchte projiziert wurden.
«Tennis for Two» und «Spacewar!» markieren die universitär-militärischen Entwicklungslinie der Computerspiele. Ihre enorme Popularität verdanken diese Spiele jedoch einer anderen Tradition, den sogenannten Arcades. In diesen Spielhallen standen Anfang des 20. Jahrhunderts mechanische Flipperautomaten, einige Jahrzehnte später dann die ersten Videospiele. Diese nehmen in der Londoner Ausstellung viel Platz ein. Das gedämpfte Licht vermittelt ein wenig von der meist schummerigen Atmosphäre der Spielsalons. Es nimmt den Ausstellungsbesuchern auch die Scheu, sich an den Automaten zu versuchen. Schon bald wummert, kracht und piepst es in den Ausstellungsräumen.
Der erste erfolgreiche Videospielautomat war 1972 «Pong». Die Idee stammt von Nolan Bushnell, der eine wichtige Regel erkannte: Spiele, die in Bars und Spielsalons stehen, müssen einfach zu begreifen sein und dürfen keine weiten Spannungsbögen aufbauen. Die Anleitung zu Bushnells elektrischem Tischtennis «Pong» beschränkte sich also auf fünf Worte: «avoid missing ball for highscore».
Das änderte sich mit den ersten Videospielkonsolen für den Privatgebrauch. Hier sind Spielkonzepte möglich, die eine komplexe Handlung über einen längeren Zeitraum erzählen. Zum Beispiel erschien 1978 für die Konsole «VCS» das erste grafische Rollenspiel «Adventure». Der Spieler verbringt Stunden damit, einen Weg durch Labyrinthe, Schlösser, Verliese und Katakomben zu finden und sich das Spieluniversum zu erschliessen. Natürlich war die Grafik 1978 so beschränkt, dass der Held als farbiges Rechteck umherläuft; natürlich spielen sich die Erzählung und die Entwicklung des Spielcharakters nahezu ausschliesslich im Kopf des Spielers ab, der sich selbst zusammenreimt, warum sein Spielcharakter so versessen darauf ist, den «goldenen Kelch» zu finden. Aber auch wenn die meisten Ausstellungsbesucher das unauffällige «Adventure» übersehen, sind hier Ansätze der epischen Erzählungen wie «Final Fantasy» sichtbar, die später auf avancierteren Konsolen entstanden.
Einen noch grösseren inhaltlichen Innovationsschub lösten die Heimcomputer aus, die Ende der Siebziger auf den Markt kamen. Die Besitzer der teuren Heimcomputer waren älter und gebildeter als die der Spielkonsolen, und die Computer boten mehr technische Möglichkeiten. Die Vielfalt der Spielgenres ist bei den PC auch heute noch grösser, obwohl die Konsolen aufgeholt haben.
Auf den Heimcomputern entstanden Genres wie Textabenteuer, an denen in den frühen achtziger Jahren sogar Autoren wie Ray Bradbury und Douglas Adams arbeiteten. Grafikadventures boten später ähnlich komplexe Erzählungen, setzten diese aber bildlich um: Anfangs erinnerte die Grafik an mittelalterliche Buchillustrationen, sie illustriert den Text, um besondere Momente hervorzuheben. Später lernten Spiele ein filmisches Erzählen. Im Gegensatz zu Spielkonsolen wird im PC-Bereich heute noch mit Rollen- und Strategiespielen deutlich mehr Umsatz gemacht. Dies sind komplexe Spielformen: Der Motor von Rollenspielen ist die Entwicklung des Spielcharakters: Erfahrung, Training, Gespräche, Ereignisse in der Spielwelt formen ihn. Bei Strategiespielen gilt es, die Gesetzmässigkeiten der Spielwelt zu begreifen und zu nutzen.
All diese Genres sind ebenfalls bei «Game On» zu sehen, wenn auch ein wenig versteckt und unscheinbar. Der Grund ist derselbe wie der für die weitgehende Nichtbeachtung durch die Besucher: Diese Spiele erfordern zu grosse Aufmerksamkeitsspannen. Es kostet den Nichtspieler also Mühe und Forscherdrang, um bei «Game On» die gesamte Bandbreite der Spielkultur zu überschauen, denn zwangsläufig dominieren die schnell erfassbaren Spielkonzepte.
Dennoch erfüllt «Game On» die Forderung Eric Zimmermanns, Spielern wie Nichtspielern die Augen zu öffnen. Die in der Ausstellung verstreuten Kunstwerke wie Tony Wards «Alien Invasion» zeigen, dass und wie Spiele das Ausdrucksrepertoire unserer Kultur ergänzt haben. Das begleitende Filmprogramm der Ausstellung wird hoffentlich die im Kino sichtbaren Einflüsse zeigen: Wären Kamerafahrten und -schwenks wie in «Matrix» und «Fight Club» ohne Actionspiele wie «Doom» möglich? Könnten die Metapher des Schlüpfens in eine Figur und die Egoperspektive im Film «Beeing John Malkovich» ohne die Semantik des Computerspiels existieren? Ganz in Zimmermanns Sinn wird der Nichtspieler nach «Game On» wohl verblüfft erkennen: Nein.
Der Spieler jedoch erkennt am Ende der Ausstellung, dass nicht allein schnellere Prozessoren und neue Interfaces die Zukunft der Computerspiele definieren – sondern vielmehr ihre Anwendung für von den Designern gänzlich unerwartete Zwecke: Spieler haben in den vergangenen Jahren die Technik von 3-D- Actionspielen benutzt, um sogenannte Machinima- Filme zu produzieren. Bei grossen Online- Rollenspielen wie «Everquest» sind vollkommen unabhängig von den Herstellern interkontinentale Spielergemeinschaften entstanden, deren Zusammenhalt auf geteilten Erfahrungen inner- und ausserhalb der Spielwelt beruht. Noch werden die Möglichkeiten neuer Computerspiele zumeist mit technischen Kennziffern beschrieben. Doch das kreative Potenzial ist gross – es muss nur ausgeschöpft werden.
Die Ausstellung «Game On» in der Barbican Gallery in London dauert bis zum 15. September 2002. Informationen: www.gameonweb.co.uk.