Zum Inhalt springen

Internet-Regulierung: EU-Parlament stimmt über Web-Kontrolle ab (Spiegel Online, 24.9.2008)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

Internet-Regulierung

EU-Parlament stimmt über Web-Kontrolle ab

Wer Turnschuhe trägt, quietscht in unpassenden Augeblicken wie ein
Clown beim Laufen, vor allem auf den Böden in Kirchen, Museen und alten
Schlössern. Schuld sind die Physik und immer wieder wechselnde
Gummimischungen der Hersteller.

Spiegel Online, 24.9.2008

Als Taschenbuch gedruckt würde es die geplante EU-Richtlinie zum
Telekommunikationsmarkt mit allen Änderungsanträgen auf gut 300 Seiten
bringen. Allerdings dürfte fast jedes Taschenbuch leichter zu lesen
sein als dieser verschachtelte Gesetzestext.


Selbst Experten haben Probleme, den Inhalt der gut 560.000 Zeichen
zu überblicken. In dieser Textwüste, über die das EU-Parlament am
Mittwoch abstimmt, sind einige brisante Passagen versteckt. Kommen die
durchs Parlament, könnte das Internet für EU-Bürger in einigen Jahren
ganz anders aussehen als bisher.

TELEKOMPAKET: SO LÄUFT DAS GESETZGEBUNGSVERFAHREN

Paket


Das Telekompaket besteht aus drei Gesetzen: Einer Richtlinie zur
Marktregulierung bei Netzzugängen sowie einer zu Nutzerrechten und
Datenschutz. Zudem soll per Verordnung eine EU-Behörde geschaffen
werden, welche die Regulierung zum Bespiel bei der Frequenzvergabe für
Breitband-Internet-Zugänge und das Daten-Roaming koordinieren soll.

Prozedere
Nach der ersten Entscheidung des Parlaments müssen die
EU-Mitgliedsstaaten im Rat den Gesetzen zustimmen. Sollte es keine
Einigung geben, müssten Parlament und Rat sich bei einigen Punkten im
Vermittlungsverfahren auf einen Kompromiss einigen. Beschlossen werden
soll das Paket im nächsten Jahr, danach müssen die Mitgliedsstaaten die
Vorgaben der Richtlinien in eigenen Gesetzen umsetzen.

Urheberrecht, Breitbandversorgung auf dem Land und Datenschutz –
SPIEGEL ONLINE analysiert, wo das EU-Parlament das Web regulieren kann.


Raubkopiekontrollen und rechtmäßige Inhalte

So finden sich in den Änderungsanträgen zu den Gesetzesvorschlägen
an einigen Stellen Formulierungen, die zur Basis einer stärkeren
Filterung von Internet-Inhalten dienen könnten: In einigen
Änderungsanträgen zur Universaldienstrichtlinie steht immer wieder die
Formulierung "rechtmäßige Inhalte". Alle für die Internet-Nutzung
formulierten Rechte sollen nur beim Abrufen und Verbreiten dieser
"rechtmäßigen Inhalte" gelten.
Diese Unterscheidung der von Providern übermittelten Inhalte sehen Bürgerrechtler kritisch. Markus Beckedahl, Gründer des Blogs
Netzpolitik
erklärt SPIEGEL ONLINE: "Bisher gab es eine strikte Trennung, dass
EU-Telekommunikationsgesetzgebung nur Infrastrukturfragen regelt und
keine Inhalte."

Anlassunabhängige Internet-Kontrolle

Sollte dieser Änderungsantrag Gesetz werden, sieht Beckedahl
Internet-Provider in einer neuen Rolle: "Wie soll ein Provider
feststellen, was rechtmäßige Inhalte sind? Um dies feststellen zu
können, ist ein Eingriff in die Privatsphäre der Internet-Nutzer nötig."

Eine solche generelle, anlassunabhängige Kontrolle setzt ein anderer
Änderungsantrag voraus, in dem empfohlen wird, Internetnutzer bei
Urheberrechtsverstößen (zum Beispiel durch die Verbreitung
urheberrechtlich geschützter Dateien über Peer-to-Peer-Netze) zu
warnen. Europäische Datenschutzbeauftragte warnen die EU-Abgeordneten
davor, solche Regelungen zu billigen.

Warum eine generelle Datenkontrolle problematisch ist, begründet
Marit Hansen, stellvertretende Leiterin des Unabhängigen Landeszentrums
für Datenschutz in Schleswig-Holstein so: "Wer jederzeit damit rechnen
muss, dass sein Verhalten analysiert wird, handelt nicht mehr frei."

Wie das EU-Parlament hier entscheidet, ist nicht abzusehen. Die
EU-Abgeordnete Erika Mann (SPD), Mitglied im Industrieausschuss,
erklärt: "Gerade zu diesen Urheberrechtsfragen sind sehr viele
Änderungsanträge kurzfristig eingereicht worden. Die Lage ist
unübersichtlich, ganz wird man dieses Thema aber nicht aus der
Richtlinie verbannen können."

Mann hofft aber, mit einem Kompromiss eine generelle Vorabkontrolle
abwenden zu können: "Möglich könnte es sein, dass die Provider
allgemein, ohne Kontrolle des Datenverkehrs ihre Kunden über die Folgen
von Urheberrechtsverletzungen informieren."


Vorratsdatenspeicherung und IP-Adresse

Der europäische Datenschutzbeauftragte Peter Hustinx hat einige
Änderungsanträge des Telekompakets in einer Stellungnahme Anfang
September kritisiert:
Ein Antrag formuliert, dass sogenannte Internet-Protokoll-Adressen in
Zukunft nicht mehr per se als sogenannte personenbezogene und damit
besonders schützenswerte Daten gelten sollen.

Über IP-Adressen lässt sich anhand der Datenbanken von
Internet-Providern zuordnen, wann jemand von einem bestimmten
Internet-Anschluss auf welche Internetdienste zugegriffen hat.

Datenschützerin Marit Hansen vom ULD kritisiert diesen Antrag
scharf: "Heute werden über IP-Adressen regelmäßig Personen ermittelt
und mit Konsequenzen konfrontiert – sowohl im Bereich der
Strafverfolgung als auch beim zunehmenden One-to-One-Marketing."

Datenschützer: "Hier wirkt Lobbyarbeit"

Dass nun ein Vorschlag im Raum steht, IP-Adressen als nicht
personenbezogen zu definieren, zeugt Hansen zufolge "allenfalls von der
Anfälligkeit des EU-Prozesse für Lobbyarbeit etwa aus der
Werbebranche", mit der Realität habe das "nichts zu tun".

Als problematisch stufen Datenschützer auch einen Änderungsantrag
ein, der eine sehr ausgiebige Vorratsdatenspeicherung ermöglicht.

Dem Vorschlag nach dürfen EU-Mitgliedstaaten Internet-Provider dazu
verpflichten, über eine "begrenzte Zeit" Protokolle zu speichern, wer
welche Internet-Dienste wann genutzt hat, wenn das der
Landesverteidigung, öffentlichen Sicherheit, Verhütung, Ermittlung,
Feststellung und Verfolgung von Straftaten oder "des unzulässigen
Gebrauchs von elektronischen Kommunikationssystemen" oder dem "Schutz
der Rechte und Freiheiten anderer Personen" dient und verhältnismäßig
ist.

Informationspflichten bei Datenschutzpannen

Datenschützer loben einen Gesetzesentwurf, der Unternehmen zu
konkreten Datenschutzplänen verpflichten soll. Vorgesehen sind in dem
entsprechenden Änderungsantrag die Pflichtmaßnahmen: 

  • Geeignete technische und organisatorische Maßnahmen, um
    sicherzustellen, dass nur ermächtigte Personen für rechtlich zulässige
    Zwecke Zugang zu personenbezogenen Daten erhalten
  • Verfahren zur Ermittlung und Bewertung der nach vernünftigem Ermessen vorhersehbaren Schwachstellen
  • Verfahren zur Einleitung vorbeugender, korrektiver und schadensbegrenzender Maßnahmen

"Das geht in die richtige Richtung", urteilt Datenschützerin Marit
Hansen vom ULD, bemängelt aber, dass der Gesetzesvorschlag vorsieht,
dass von Datenschutzpannen Betroffene nur "bei gravierenden
Verletzungen der Datensicherheit" informiert werden müssen.

Funk-Internet für Schmalbandregionen

In gut 2200 deutschen Gemeinden gibt es keinen DSL-Zugang, kein
Breitband-Internet und somit keine moderne Infrastruktur. Das Verlegen
neuer Kabel ist Telekommunikationsfirmen dort zu teuer, daher hoffen
viele Betroffene auf das Funk-Internet. Denn die Umstellung von
analogem Antennenfernsehen auf digital terrestrische Übertragung
(DVB-T) spart Platz im Fernsehwellenspektrum. Wo früher ein analoger
TV-Kanal hinpasste, ist jetzt Raum für bis zu vier digitale Kanäle.

Die frei werdenden Fernsehfrequenzen wären technisch ideale
Kandidaten, um drahtlose Internet-Verbindungen aufs flache Land zu
bringen.

Das Problem: Rundfunkanbieter wollen die Frequenzen nicht einfach so
hergeben. Die EU-Kommission hat sich sehr stark dafür gemacht, diese
Frequenzen für Datenverbindungen freizumachen. Ob dieser Vorschlag es
durchs EU-Parlament schafft, daran zweifeln Experten.

Alexander Roßnagel, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für
Europäisches Medienrecht (EMR) beschreibt SPIEGEL ONLINE die
Konfliktlinien so: "Die EU-Kommission will die analogen
Rundfunkfrequenzen wie ein Wirtschaftsgut zum Handel freigeben, im
Parlament stehen nun verschiedene Anträge zur Abstimmung. Der
ursprüngliche Text räumt dem Rundfunk eine bevorzugte Rolle ein, aber
hier gibt es Änderungsanträge gegen diese Sonderbehandlung." Auch wenn
das Parlament hier nicht endgültig entscheidet, nennt Roßnagel die
Abstimmung ein "wichtiges Signal".

Denn letzten Endes müssen Parlament und Rat sich einigen. Es ist
aber durchaus möglich, dass die EU-Parlamentarier einem Antrag
zustimmen, über die Aufteilung der sogenannten digitalen Dividende erst
2010 zu entscheiden.


Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
Immer gut: Newsletter abonnieren


auch interessant

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Der common senf aktueller Debatten um Staatsausgaben, Tarifverhandlungen und Zinspolitik scheint mir gerade ein gefährlicher: Alle sollen sparen. Der Staat soll weniger ausgeben und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Arbeitnehmer sollen Reallohnverluste akzeptieren, sparen und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Und Unternehmen sollen sparen, bloß keine Kredite aufnehmen für Investitionen

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Paradox der Gegenwart

Einerseits sehen so viele Menschen ihre individuellen (Konsum)Bedürfnisse als das wichtigste Gut, als absolut schützenswert. Überspitzte Maxime: Was ich will, ist heilig – alles geht vom Individuum aus. Andererseits erscheint genauso viele Menschen das Individuum ganz klein, wenn es darum geht, etwas zu verändern in der Welt. Überspitzte Maxime: Ich

Paradox der Gegenwart

Wie Schmecken funktioniert

Gelernt: Geschmack und Aroma sind zwei ganz unterschiedliche Wahrnehmungen. Für jede ist ein anderer Teil im Gehirn verantwortlich. Und jede basiert auf unterschiedlichen Daten: Für den Geschmack kommen Eindrücke von der Zunge, fürs Aroma von Rezeptoren in der Nase. Beides vermischt das Gehirn zum Gesamteindruck Schmecken. Sehr lesenswerter Aufsatz darüber

Wie Schmecken funktioniert