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Jedem sein Tarzana (telepolis, 10.6.2001)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
6 minuten gelesen

Jedem sein Tarzana

Die Ängste, aus denen das amerikanische Suburbia gebaut ist

telepolis, 10.6.2001

Wer das Wesen von Suburbia verstehen will, muss die Straßen dieser besonderen, amerikanischen Form der Vorstadt betrachten. Es gibt ein bekanntes Foto aus der Vogelperspektive vom Zentrum der Küstenstadt Virginia Beach. Die eine Hälfte des Bildes nimmt eine Kreuzung des Virginia Beach Boulevard mit einer anderen Straße ein: zwei Mal elf Fahrstreifen treffen aufeinander. Die andere Bildhälfte füllt eine graue, weitgehend leere Betonfläche mit vier Bäumen – ein Parkplatz. Das Bild offenbart das Gestaltungsprinzip des Zentrums: An diesem Ort, wo Menschen aufeinander treffen und zwangsläufig soziale Beziehungen eingehen, ist ein Aufenthalt außerhalb der abschirmenden Metallhülle eines Wagens unmöglich.

Die Straßen in Suburbia sind nicht etwa wegen des Verkehrsaufkommens so groß und dominierend. Vielmehr bestimmt Angst die Gestaltung. In den fünfziger Jahren wurde ein Hauptkriterium für gute Straßen formuliert, hinter dem die Belange der Fußgänger bis heute zurückstehen: Vor einem Atomschlag muss über die Hauptstrecken die Evakuierung eines gesamten Vorortes möglich sein. Nebentrassen wirken ähnlich überdimensioniert. Damit zwei Löschzüge einander passieren können, ist eine durchschnittliche Sackgasse in Wohngebieten heute um die neun Meter breit, am Ende befindet sich ein Wendekreis mit einem Radius von fast 30 Metern.

Die Straßen wachsen auch, weil die Menschen fürchten, nicht schnell genug wegzukommen, in die Arbeit beispielsweise. Die Häuser rücken voneinander und den Straßen ab, wenden den seltenen Passanten Garagentore zu, weil Menschen einander fürchten. Suburbia ist aus Ängsten gebaut. Aus welchen, zeigt die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Catherine Jurca in ihrer gerade in der Princeton University Press erschienenen Untersuchung über die Tradition der Vorstadt im amerikanischen Roman des zwanzigsten Jahrhunderts.

Es ist zum Einen die Mischung von Angst und Hass der weißen gegenüber den schwarzen Amerikanern. Wie Suburbia aus dem Bedürfnis der Weißen nach Trennung entsteht, ist in Edgar Rice Burroughs Tarzan-Romanen nachzulesen. Die Eltern Tarzans werden bei einer Schiffsreise von Meuterern in der Wildnis der westafrikanischen Küste ausgesetzt. Auf den ersten Blick fehlt der Figur Tarzan jeder koloniale, imperialistische Anspruch: Er ist kein Beherrscher, sondern ein Flüchtender: Er zieht sich vor den Eingeborenen in das von seinen Eltern erbaute Haus zurück. Den Dschungel, aus dem Tarzan in das Haus flüchtet, sahen um die Jahrhundertwende zahlreiche weiße Amerikaner in den Städten entstehen.

1899 schrieb Adna Ferrin Weber in ihrer voluminösen Beschreibung The Growth of the Cities in the Nineteenth Century, dass die neusten und für viele Amerikaner "am wenigsten wünschenswerten" Immigranten sich am ehesten in den Innenstädten ansiedelten. Tarzan verbarrikadiert sich in seiner abgelegenen Hütte. Sie ist der Ursprung seiner Identität: Hier liegen die Bücher seines Vaters, mit denen er sich das Lesen beibringt. Und die Bücher lehren ihn den Unterschied zwischen einem Affen und einem Menschen, wie Burroughs schreibt. Als weiße Matrosen am Strand landen, heftet Tarzan eine Warnung an die Tür seiner Hütte, die zugleich ein Entwurf seines Selbst ist: "Dies ist das Haus von Tarzan, der Tiere und viele schwarze Männer tötete."

Hier verdreht Burroughs auf pervers erhellende Art den Kolonialismus: Schwarze Menschen zwingen die weißen allein durch ihre Existenz dazu, gewalttätig und usurpatorisch ihre Identität zu definieren. Die Rassentrennung – viele Studien in den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren belegen, wie Vermieter weiße Viertel am Stadtrand von schwarzen Vierteln in der Stadt trennen – ist Burroughs zufolge nicht eine Entscheidung der Weißen, sondern eine von den Schwarzen erzwungene Reaktion. In seinem Roman Native Son findet Richard Wright ein starkes Bild für die weiße Expansion in bestimmte Vierteln: Es ist eine Karte, auf der die Treibjagd nach einem schwarzen Kriminellen organisiert wird. Die Fläche, welche von der weißen Bürgerwehr kontrolliert wird, erscheint schwarz auf dem Papier. Der weiße Fleck wird immer kleiner und kleiner in einem Meer der Schwärze. Die Umkehr der Farben zeigt, wie perfide die Besiedlungsstrategie Suburbias gerechtfertigt wird: Als Konsequenz einer umgekehrten Kolonialisierung, wie sie bereits in Tarzan beschrieben wurde.

Die weißen, angelsächsischen, protestantischen Amerikaner verließen nach der Jahrhundertwende die Städte. Zeitschriften wie House Beautiful, American Homes and Gardens und Craftsman setzen dem eingeengten, in seiner Freiheit beschränkten Menschen in der Stadt die Freiheit in den ländlichen Vorstädten entgegen. Implizit war hier die Freiheit von Nicht-Weißen gemeint. Edgar Rice Burroughs erwarb 1919 ein Landstück von 21 Quadratkilometern im San Fernando Valley und gründete dort die rein weiße Siedlung Tarzana.

Die Angst vor anderen Rassen wurde jedoch noch zu Burroughs Lebzeiten von einer anderen abgelöst: Schon in den Tarzan-Romanen finden sich erste Klassengegensätze, die nicht parallel zu Rassengrenzen verlaufen. Tarzan – Sohn eines Aristokraten – stellt bald fest, dass die weißen Matrosen nicht sind wie er. Er erkennt: In ihrem schurkenhaften Verhalten sind sie nicht anders sind als die Schwarzen.

Ähnlich wie die Bewohner Suburbias ihr Weiß-Sein nicht als Ursprung ihrer tatsächlichen Dominanz, sondern vielmehr einer Flucht in Angst deuteten, bedeutet materieller Wohlstand für sie immer Angst, nie Zufriedenheit. In Sloan Wilsons Roman The Man in the Gray Flanel Suit erzählt der Held seiner Frau von seiner Beförderung so: "Hast du jemals darüber nachgedacht, was geschieht, wenn ich eines morgens tot umfalle?" Die Angst vor dem eigenen Wohlstand ist unterbewusst auch die Angst vor dem Streben der weniger Erfolgreichen nach dem eigenen Platz.

Suburbia ist folglich nicht nur nach Hautfarben getrennt, sondern auch nach Einkommen. In Vororten sind Häuser, die 200000 Dollar kostete, sorgsam von jenen für 350000 Dollar getrennt. Diese Einteilung in enge Marktsegmente ist auch eine Strategie, um das Massenprodukt Suburbia zu individualisieren. Das Konzept der Exklusivität und Reinheit spiegelt die dritte große Angst Suburbias, aus das die beiden anderen resultieren: die Angst, die eigene Identität in einer heterogenen Massengesellschaft zu verlieren.

Schon Thomas Jefferson sah allein die Landbewohner, weit entfernt von den schädlichen Einflüssen der Stadt, die amerikanischen Ideale Gleichheit, Unabhängigkeit und Freiheit leben. Von diesem Gedanken war auch die erste Siedlungswelle aus den Städten gen Suburbia ab 1880 geleitet. Nicht zufällig erinnert das Vokabular, in dem 1913 ein Vorort von Baltimore größere Selbstbestimmung forderte, an den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg: Von Home Rule war die Rede. Die Bewohner Suburbias sahen sich als Nachfahren der Gründerväter, während der Stadt die Rolle des britischen Kolonialreichs zukam.

Allerdings spürte man in Suburbia, dass auch dort das Leben von dem der Pioniere stark entfremdet war: Das Titelbild der Weihnachtsausgabe der Saturday Evening Post von 1960 zeigt einen Bahnhof in der Vorstadt. Die Menschen schleppen ihre Geschenke zu den geparkten Wagen, um in ihre Häuser zu fahren – doch sie Wagen rutschen die schneebedeckte Auffahrt zur Straße hinunter. Die industrielle Massengesellschaft bedroht die amerikanische Identität. Und ironischerweise ist gerade Suburbia jener Ort, an dem Amerika wiedergeboren werden sollte, selbst ein industriell gefertigtes Massenprodukt. In Sinclair Lewis Roman Babbit sagt deshalb der Held, er habe ein Haus, aber kein Heim.

Verzweifelt suchen die Bewohner Suburbias nach einer Identität. Ihr Hauptanliegen ist es nicht mehr, in einer reinen Gegend zu wohnen. Vielmehr wollen sie um jeden Preis den Anblick von Menschen vermeiden, die ein identisches Leben führen wie sie. Die Folge ist eine maximale Marktsegmentierung: Jedem Einzelnen wird das Gefühl von Exklusivität verkauft. Und zwar indem das Leben in Suburbia nur noch in geschlossenen Räumen stattfindet. Das Heim treibt mit Stereo-, Fernseh-, Klima- und Kochanlagen einen immensen technischen Aufwand, um seine Bewohner vom Gang nach draußen abzuhalten. Denn dort könnten sie Menschen treffen, die genau so sind wie sie.

Das Auto ist eine Verlängerung dieses häuslichen Raumes nach außen. Selbst die einfachsten Besorgungen sind in Suburbia aufgrund der noch immer dominierenden strikten Trennung von Wohn- und Einkaufsgebieten allein mit dem Wagen zu tätigen. Die Bürgersteige bleiben unbenutzt und die Nachbarn nahezu unsichtbar. 500 Stunden verbringt ein Amerikaner im Durchschnitt pro Jahr im privatesten aller Räume – hinter dem Steuer.

Dadurch wird Menschen, die zu arm, zu alt oder zu jung zum Autofahren sind, ein eigenes Leben in Suburbia nahezu unmöglich. Familien, die es sich leisten können, besitzen für jedes Mitglied einen Wagen. Und auch hier sind die Jugendlichen – gerade in einem Alter, wo Unabhängigkeit sehr wichtig ist – auf das Wohlwollen ihrer Eltern angewiesen.

Wie erklärt der Vater so schön seinem Sohn in Richard Fords Roman Independence Day das Wesen Amerikas: Schon die Kolonien gaben ihre Unabhängigkeit auf, um als Vereinigte Staaten Freiheit zu erfahren. In Umfragen geben 50 Prozent der Amerikaner an, in einer abgegrenzten, privat bewachten Siedlung leben zu wollen. In ihrem Selbstmitleid werden die Bewohner dieser Potenzierung Suburbias klagen, dass die Wachen an den Toren sie an Gefängniswärter erinnern. Aber es ist ein selbst gewähltes Gefängnis, in dem jeder seine eigene, ganz private Zelle gewählt hat.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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