Schluss mit dem Budenzauber
Lakritzschnecken gibt’s einzeln, die Flasche Bier mit Pfand für 65 Cent – und am wichtigsten: einen Plausch mit jedem Kunden. Die Bude ist im Ruhrgebiet der zentrale Nachbarschaftstreffpunkt. So auch bei Kioskbesitzer Willy Göken in Essen. Jetzt soll er einem Neubauviertel weichen.
Spiegel Online, 6.5.2010
Willy Göken reicht dem Peter eine Packung von den “roten” Zigaretten aus dem Kiosk und Peters Hund etwas Trockenfutter. Der braun-weiße Rüde kennt das schon, er stellt sich auf die Hinterbeine, wedelt mit dem Schwanz und stützt sich erwartungsvoll auf die Autozeitschriften. “Ja was ist los”, sagt Kioskbesitzer Göken und lacht. Er weiß, dass Peter mit “den Roten” John Player Special meint. Er kennt fast jeden in Essen-Altendorf und freut sich, wenn sie ihn auch erkennen. Seit 47 Jahren verkauft Willy in diesem Kiosk Zigaretten, Bier und Süßkram wie die Rotella-Schnecken Nr. 22 für 5 Cent.
Nun soll er weg. Wenn es nach der Stadt und den Investoren geht, werden in drei Jahren an der Stelle von Willys Kiosk Bäume stehen. Der Mietvertrag wurde schon gekündigt. Die Rüselstraße, auf der Willy im Sommer Straßenfeste und im Winter Glühweintreffen organisiert, wird durch eine “Uferpromenade” mit “Freitreppe” ersetzt. Der Bahndamm, an den sich Willys Kiosk schmiegt, auf dem früher die Güterzüge mit Kohle und Flüssigeisen entlangdonnerten, wird abgetragen, an seine Stelle kommt ein See. Alte Wohnblöcke mit “180 nicht mehr zeitgerechten und vorwiegend leerstehenden Wohnungen” werden abgerissen, 100 von 500 Kleingärten auch und der Bahndamm auf 300 Metern Länge.
Auf dem Bebauungsplanentwurf ( PDF-Dokument) der Stadt Essen sieht das sehr idyllisch aus. Da stehen schöne Schlagworte wie “Wohnen am Wasser”, “städtebauliche Aufwertung” und “Revitalisierung”. Von Willy Gökens Kiosk steht da nichts. Das ist eine stadtplanerische Dummheit. Statt es abzureißen, müsste man Gökens Büdchen unter Denkmalschutz stellen, als herausragendes Beispiel der fürs Ruhrgebiet typischen Trinkhallen.
Diese Kioske sind mit der Industrialisierung im Ruhrgebiet entstanden, die ersten sollen Mitte des 19. Jahrhunderts in Barmen, Düsseldorf und Aachen von Mineralwasserabfüllern zum Straßenverkauf aufgestellt worden sein. Die Städte vermieteten dafür Grundstücke sehr günstig. Die Absicht dahinter: den Alkoholkonsum eindämmen. In den zwanziger Jahren erweiterten viele Trinkhallen ihr Angebot um kleine Snacks (Gurken, Heringe). Betreiber waren oft Kriegsbeschädigte oder Bergmannswitwen.
1963 schrieben die Kruppianer bei Göken an
So ähnlich begann auch Willy Gökens Bude: Seine Mutter hat den Kiosk 1953 mit Hilfe einiger Bergleute aus der Nachbarschaft aufgebaut, nachdem ihr Mann früh verstarb. Willy war damals 14, da konnte man auf Straße vor der Bude noch Fußball spielen, so selten kam ein Auto vorbei. Willy machte eine Maurerlehre, betrieb eine Wäscherei und übernahm 1963 den Kiosk seiner Mutter: “Das brummte hier, als der Krupp noch groß war. Da kriegten die zweimal im Monat Geld. Dazwischen wurde angeschrieben.”
Und das Geld hat er immer bekommen, sagt Willy: “Pünktlich am 15. oder am 28., das waren die Bergleute oder die Kruppianer. Von denen hat mich nie einer hängen lassen.” Damals fuhren auf dem Bahndamm noch Züge. “Flüssigeisen, tonnenweise! Da hast du geglaubt, du hättest abgehoben im Bett, wenn einer vorbeidonnerte.”
Wenn Göken davon erzählt, mit seinen Stammkunden schäkert und lacht, wirkt er wie Ende 50. Der Mann mit dem schwarz-blauen Rautenpullover, dem grauen Schal und Schnauzer ist aber 71. Das spürt man nur, wenn er vom nahen Ende der “Trinkhalle Willy Göken” erzählt. Da schaut er meistens nach unten, seine Stimme wird monoton, er wirkt älter als sonst.
Im Angebot: “Billig Bier, Flasche incl. Pfand 0,65”
Was mit einer Bude verloren geht, kann man nicht am Sortiment festmachen. Cracker, Milch, Gasflaschen, “Billig Bier, Flasche incl. Pfand 0,65” – das ist nur ein Teil des Angebots. Was die Bude ausmacht, sind Dialoge wie der zwischen Peter und Werner, zwei Stammkunden. Peter fummelt die rote Players-Packung auf und steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen, sein Hund springt zu Willy hoch, der im Verkaufsfenster lehnt. Da kommt Werner, dunkelblaue Schirmmütze, grauer Parka und quatscht Peter an:
“Dich hab ich schon lange nicht mehr gesehen.”
“Ich grüße dich.”
“Biste immer noch nicht umgezogen?”
“Nee”
“Haste noch Zeit.”
“Am 23., wurde um eine Woche verschoben.”
“Ach so. Und was macht die Frau?”
Peter schüttelt den Kopf.
“Wenn ich da hinkomme und zwei Tage nicht da bin, sagt sie: ‘Oh bist du schon da’.”
“Ich hab das ja mit meiner Mutter mitgemacht, die war genauso.”
“Jaja.”
“Die hat zu mir gesagt: ‘Wer sind Sie denn?'”
“Erkennen tut sie mich noch. Auch die anderen Geschwister und so.”
“Aber Werner, die Zeit kommt, da sagt sie: ‘Wer sind Sie denn?'” Da musst du ganz, ganz hart sein. Da musst du denken, wir wollen alle alt werden.”
“Neee, so will ich nicht alt werden”.
Werner schüttelt den Kopf und steckt seine Zigarette an.
Gökens Bude ist ein bisschen Eckkneipe, Stadtteiltreffpunkt und Veranstaltungsort.
In der Wohnzimmerbar hinter der Bude trifft sich der Sparclub, einige Spieler vom Freizeit-Fußballverein BSC Göken kommen hierher. Auf dem Bahndamm oberhalb der Bude hat Göken über Jahrzehnte einen kleinen Tierfigurenzoo aufgebaut. Es begann 1967 mit einer Werbefigur aus dem Autohaus, einer Elefantenplastik. Göken stellte eine aufs Dach der Bude. Dutzende von Pinguinen, Schafen und Tigern folgten. Der Modellzoo muss im Sommer weg, noch vor der Bude. Weil die Revitalisierungsbauarbeiten bald anfangen.
Göken will sich nicht aufregen darüber, er winkt traurig ab: “Zu den Elefanten konnten die Kinder immer rauf. Im Sommer haben wir ein Straßenfest gemacht. Im Dezember haben wir hier vom Sparclub eine Weihnachtsfeier mit 150, 200 Personen im Saal.”
Zerbrochene Gartenzwerge, eingeschlagene Fenster
Ein, vielleicht zwei Sommerfeste wird Göken noch auf der Rüselstraße feiern können, bis hier die Uferpromenade hinbetoniert wird. Es werden Feste in einer sterbenden Straße sein. 19 Kleingärten auf der linken Seite sind schon geräumt. Zerbrochene Gartenzwerge, verbleichte Fantasy-Romane und zerknautschte Fußbälle liegen im Gras. Die Häuser gegenüber stehen zum Teil schon leer. Die Straße wartet auf den Abbruch. Die Bevölkerung im Stadtteil schrumpft, der Plan der Stadt und der Wohnungsbau-Gesellschaft: Alte Wohnblöcke abreißen, einen See mit edleren Wohnhäusern daneben hinbauen.
Altendorf ist ein Arbeiterstadtteil, früher grenzten im Westen direkt Krupp-Werke und Zechen an. Heute ist in Altendorf die Arbeitslosenquote höher als im Durchschnitt in Essen, die Wohnungen sind günstiger und das Durchschnittseinkommen niedriger. Die Stadt Essen schreibt in ihrem Stadtteilporträt: “Der Ausländeranteil in Altendorf ist inzwischen relativ hoch und spiegelt sich auch inzwischen in der Geschäftsstruktur an der Haupteinkaufsstraße, der Altendorfer Straße, wieder.”
Wirtschaftsförderer träumen von “Notting Hill” in Essen-Altendorf
Willy Göken drückt das klarer aus: “Die jungen Familien, die ich kenne mit ihren Fünfjährigen, die hauen ab nach Rüttenscheid, Frintrop. Wir haben hier 44 Nationalitäten in Altendorf. In der Kindergartengruppe meines Sohns waren von 28 Kindern zwei mit Eltern, deren Muttersprache Deutsch ist. Das ist für manche hart. Ich komme hier mit jedem aus, egal, wo der herkommt.”
Der See, die Promenade und 180 neue Wohnung sollen an dieser Entwicklung etwas ändern. Der Chef der Essener Wirtschaftsförderung sprach bei der Vorstellung des Projekts davon, das Viertel werde ” eines Tages Essens Notting Hill” sein. Da passt eine Ruhrgebiets-Institution wie die Bude mit den Rot-Weiß-Essen-Fähnchen (“Wir gratulieren zum Aufstieg in die Zweite Bundesliga”) nicht hin, um die das Leben in der Rüselstraße sechs Jahrzehnte lang kreiste.
Göken sagt, die Stadt habe ihm angeboten, er könne ja ein neues bauen, ein Grundstück am neuen See wurde ihm angeboten. Aber abgesehen davon, dass er das Geld für einen Neubau nicht einfach so aufbringen kann: Es geht hier nicht um irgendeinen Nachtsupermarkt. Es geht um das Büdchen am Bahndamm, wo Altendorfer Kinder den Miniaturzoo bestaunten, die Kleingärtner ihr Bier holten. Kurz: Es geht um Stadtgeschichte und Ruhrgebietsidentität.
Stadt sieht die Bude nicht als erhaltenswert an
Die Nachbarstadt Bochum hat vor ein paar Jahren eine alte Trinkhalle in die Denkmalliste aufgenommen – “als bauliches Zeugnis der Nahversorgung, die für die Geschichte der Menschen bedeutsam ist, regionaltypische Lösung einer Bauaufgabe in einer Arbeiterregion.” (Hintergrund dazu in diesem Essay, PDF-Dokument)
Das kann Hermann Busch, Leiter des Essener Amts für Stadtneuerung und Bodenmanagement nicht nachvollziehen: “Der Kiosk ist ausschließlich durch die Person von Willy Göken zur ‘Institution’ in Altendorf geworden.” Daraus folgt für die Stadt: “Da Herrn Göken die Möglichkeit gegeben wird, in unmittelbarer Nähe seines jetzigen Standortes einen neuen Kiosk zu erstellen, geht auch die regionaltypische Lösung einer Nahversorgung nicht verloren, so lange die Person Willy Göken diesen Kiosk betreibt.” Die Sorge um die Bude kann die Stadt überhaupt nicht nachvollziehen: “Speziell der Niederfeldsee und die Neubebauung wurde aus dem Stadtteil ausschließlich positiv begleitet”, erklärt Busch.
Göken wird in den nächsten Monaten die Büchse vom Sparverein und die Rot-Weiß-Essen-Poster einpacken und seinen Sportpokal-Laden 500 Meter weiter oben zur Ersatzbude umbauen. Es wird nicht dasselbe sein, da können die Kunden nicht draußen stehen, da ist kein Platz für ein Straßenfest und für die Elefanten und Pinguine aus Gökens Miniaturenzoo schon gar nicht.
Willy Göken sagt dazu nichts. Zu Notting Hill fällt ihm nichts ein. Aber er erzählt vom Fußball, von seinem Verein Rot-Weiß-Essen und schimpft über den Stadionneubau: “Rot-Weiß ist auch nicht weit von hier. Reißen ein halbes Stadion ab und können kein neues bauen, das ist Essen.” Da lacht Willy Göken richtig.
Fröhlich schaut er nicht.