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Konsole mio (Süddeutsche Zeitung, 30.3.2001)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Konsole mio

Computerspiele könnten Kunst sein: Sie sind es aber nicht, weil bisher niemand ernsthaft Archivierung, Austellung und Geschichtsschreibung betreibt

Süddeutsche Zeitung, 30.3.2001

Zu Computerspielen haben die meisten Menschen dasselbe Verhältnis wie zu Kaugummi. Wer selbst nicht kaut, sieht nur schmutzige Flecken auf der Straße kleben. Wer selbst nicht spielt, kennt vom Hörensagen brutale Schießspiele, die angeblich Massaker unter Schülern auslösen. Da ist Henry Jenkins trotz etwas Spielerfahrung gänzlich unverdächtig. Der Literaturprofessor leitet das Programm für vergleichende Medienwissenschaft am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Den Forschungsansatz beschreibt er mit den Worten „von Homer zum Holodeck“. Jenkins nun nennt Computerspiele die „lebendigste Kunstform des 21. Jahrhunderts“. Kino, Fernsehfilm und Jazz seien auch lange verachtet worden, bis sie sich als Kunstformen etablierten.

Damals, 1924, veröffentlichte der amerikanische Literatur- und Kunstkritiker Gilbert Seldes das Buch „The Seven Lively Arts“. Seldes wurde bestenfalls belächelt, zählte er doch zu jenen sieben Künsten Musicals, Comics und den Hollywoodfilm. Er sah in ihnen den Alltag der industriellen Gesellschaft und des urbanen Lebens reflektiert. Die von ihm gekürten Künste nannte Seldes nicht nur ihrer Themen wegen lebendig, sondern auch weil sie diese mit der gegenwärtigen Technologie bearbeiteten. All das trifft auch für Computerspiele zu. Also sieht Jenkins die Zeit gekommen, sie „als neue populäre Kunst, welche die Ästhetik des 21. Jahrhunderts formt“, ernst zu nehmen. Wäre etwa die selbstverständliche Verwendung der Metapher des Schlüpfens in eine Figur in „Being John Malkovich“ ohne das Computerspiel möglich gewesen?

Das sieht allerdings kaum jemand so. Die fehlende Wahrnehmung als Kunstform steht in umgekehrtem Verhältnis zur Popularität des Computerspiels. In den Vereinigten Staaten kauft jeder Haushalt im Jahr durchschnittlich zwei Computer- oder Videospiele. Die Umsätze bewegen sich in der Größenordnung Hollywoods. In Deutschland setzten die Filmtheater 1999 mehr als 1,6 Milliarden Mark um. Für Computerspiele wurden da gut 1,4 Milliarden ausgegeben. Die Rezeption eines Films unterscheidet sich jedoch grundlegend von der eines Computerspiels. Der Spieler hat eine sehr große Freiheit und muss zugleich wegen eben dieser interaktiven Eigenschaften des Spiels sehr aktiv am Entstehen einer Geschichte mitwirken. Denn zum Werk wird das Computerspiel erst durch die Benutzung. Und das bedeutet schon mal 200 durchspielte Stunden.

Hinzu kommt ein anderes Problem. Kann eine Kunstform ohne Bewusstsein ihrer Geschichte bestehen? Die Programme, mit denen man sich vor knapp 30 Jahren die Zeit vertrieb, sind heute meist ebenso verschollen wie die Computer und Videokonsolen, auf denen sie damals liefen. Jenkins schätzt vorsichtig, dass bis heute über 100 Spielsysteme erfunden wurden. Die Kompatibilität der Formate zwischen einem heutigen PC und einem alten Amiga-Rechner ist ebenso gering wie etwa die zwischen einer Videokassette und einem Filmprojektor. Die heutige Generation der Spieler und Spielentwickler kennt frühe Werke bestenfalls aus Erzählungen älterer Kollegen. Vielleicht waren deshalb in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre eher eindimensionale, actionorientierte Erzählstrukturen wie in der Reihe „Tomb Raider“ so weit verbreitet. Das Spielprinzip der geschickten Bewegung und des schnellen Schießens ist dasselbe wie bei „Spacewar“, einem Spiel, das Studenten 1961 am MIT für einen Großrechner programmierten.

Die fehlende öffentliche Wahrnehmung und die fehlende Geschichte des Computerspiels haben dieselbe Ursache: die Flüchtigkeit eines Werks, dem allein durch aktive Benutzung Existenz verliehen wird. Beide Phänomene bedingen einander. Wer nimmt schon eine Kunstform ernst, die sich weder ihrer Ästhetik noch deren Entwicklung bewusst ist? Und wer finanziert Sammlungen einer Kunstform, die dem common sense nach keine ist? Henry Jenkins warnt: „Hollywood hat einen großen Fehler gemacht, als die Studios viele großartige Filme verkommen ließen, bevor ihr kultureller Wert von der Gesellschaft erkannt wurde. Auch Aufzeichnungen der wichtigsten Sendungen der amerikanischen Fernsehgeschichte existieren einfach nicht mehr.“ Jenkins’ Vorschlag: Die Spielindustrie soll mit öffentlichen Institutionen kooperieren, so wie Hollywood es mit dem American Film Institute tut.

Bislang bestehen weder solche Kooperationen noch Stiftungen – bloß Hoffnungsschimmer. In Deutschland hat der Verband der Unterhaltungssoftware (VUD) in den vergangenen sechs Jahren 6000 Programme archiviert. Allerdings fehlen sowohl die Software aus den Jahren davor als auch die Archivierung nötiger Hardware, damit die Programme auch in zehn Jahren noch laufen. Es gibt bisher nicht viel mehr als ein paar Filmrollen ohne Projektor. Mit dem Unterschied, dass in Zukunft kaum noch entsprechende Projektoren für Computerspiele existieren werden. Aktuelle Hardware ist für alte Software zu modern. Jenkins empfiehlt eine andere Herangehensweise als die Archivierung von Hardware: Die Emulation alter Programme auf neuen Rechnern. Das ist etwas ähnliches wie das Übertragen alter Filmen auf das Medium DVD. Allerdings ist das bei Spielen weit aufwendiger, da der Programmcode der Spiele hierbei meist neu geschrieben werden muss. Eine ähnliche Lösung schwebt dem Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt vor. Hier werden im Rahmen des Projektes digital craft seit einem knappen Jahr Computerspiele gesammelt. Wenn Sponsoren gewonnen sind, sollen auch ältere Spiele als Emulationen über einen Internetserver der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen – anders als bei der VUD-Sammlung, die ein reines Archiv ist. VUD-Geschäftsführer Ronald Schäfer würde gern mehr für seine Kunstform tun, doch: „Wir haben nicht die finanziellen Mittel für eine beschleunigte Projektentwicklung. Die Einbindung in eine Stiftung wäre durchaus denkbar.“ Pläne für Sammlungen gibt es bei der Landesbibliothek Berlin, am MIT und beim British Film Institute.

Privatleute archivieren längt auf Internetservern alte Spiele. Sie nennen die Programme Abandonware – sinngemäß: verlassene Programme. Die Herstellerfirmen existieren zum Teil seit Jahren nicht mehr, die Rechte haben andere Unternehmen aufgekauft. Aus juristischer Perspektive ist Abandonware jedoch nichts anderes als Softwarepiraterie. „Es gibt keinen Unterschied“, sagt Diana Piquette, die Antipiraterie- Verantwortliche bei Microsoft in den USA. Dem Urheberrecht nach bleibt geistiges Eigentum wie Bücher, Musik oder Computercodes 75 Jahre lang im Besitz des Herstellers. International sind die Gesetze unterschiedlich, doch vor einer Frist von 50 Jahren geht nirgends geistiges Eigentum in öffentlichen Besitz über. In Deutschland erlischt das Urheberrecht 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers, was ohne Einschränkungen auch für Software gilt. Rechtsanwalt Jürgen Weinknecht erläutert: „Ob alte Versionen verrotten, ist völlig egal. Mein altes Auto darf ja auch niemand wegnehmen, weil es rostet. Der Vertrieb sogenannter Abandonware ist daher strafbar.“

Hier sollte man sich an die oft zitierte Weisheit der Informationstechnologie erinnern, in einem Erdenjahr vergingen in der Computerwelt acht. Umgerechnet bedeuten 70 Jahre Besitz am geistigen Eigentum für Computercode eine Zeitspanne von 560 Jahren. 

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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