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Krank durch Konsolen: Vom Nintendo-Nacken zum Wii-Wehwehchen (Spiegel Online, 12.6.2007)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

Krank durch Konsolen 

Vom Nintendo-Nacken zum Wii-Wehwehchen

Der spanische Arzt Julio Bonis schildert seine schmerzhaften Erfahrungen mit Nintendos Konsole Wii in einem Fachmagazin, macht "Wiiitis" zum medizinischen Fachbegriff. Solch schöne Worte schaffen Ärzte bei jeder neuen Konsolengeneration: Eine alternative Spielgeschichte in sechs Fallbeispielen.

Spiegel Online, 12.6.2007

Julio Bonis ist ein junger Mann. 29 Jahre alt, gesund, ein Arzt. An einem Sonntagmorgen im Februar wacht er früh auf – die rechte Schulter schmerzt entsetzlich. Er lässt sie von einem befreundeten Rheumatologen begutachten. Nach ein paar Tests ist klar: Bonis hat eine Sehnenentzündung in der Schulter. So etwas plagt sonst vielleicht Golfer, Schwimmer oder Tennisspieler nach zu intensivem Training. Aber Bonis hat nicht trainiert – er hat sich am Samstag die Nintendo Wii gekauft, eine Spielkonsole. Und er hat Tennis gespielt.

Julio Bonis ist nicht das erste Opfer dieser Krankheit. Über Schmerzen im Ellbogen klagen einige Wii-Spieler. Der britische Chiropraktiker Tim Hutchful hat sogar ein Aufwärmprogramm für Wii-Spieler entwickelt. Doch Bonis ist der erste Arzt, der dieses Phänomen in die medizinische Fachliteratur gebracht hat: Sein Artikel "Akute Wiiitis" steht in der aktuellen Ausgabe des "New England Journal of Medicine". Und bis heute haben einem schnellen Überblick bei Google News nach zu urteilen mehr als 100 Medien von Großbritannien bis Pakistan und Australien die Geschichte der Wiiitis aufgegriffen.

Zu jeder Konsole ein neues Krankheitsbild

Dabei beruht Bonis Artikel auf einer einzigen Fallgeschichte – seiner eigenen. Die Publikationsform des "Letter" verlangt keine klinische Studie als empirische Grundlage, keine aufwendige Peer-Review. Bonis zu SPIEGEL ONLINE: "Das ist nur die Beobachtung einer neuen Art von Sehnenentzündung, die für Ärzte und Patienten interessant sein könnte. In Zukunft könnte jemand an Forschung auf diesem Gebiet interessiert sein." Nach der Veröffentlichung hat Bonis E-Mails von Kollegen erhalten, die von drei ähnlichen Fällen in den Vereinigten Staaten berichten. Bonis glaubt: "Es gibt wenige Fälle, aber vielleicht ist es eine unterdiagnostizierte Krankheit."

Solche Beiträge haben eine lange Tradition in medizinischen Fachzeitschriften. Zu jeder neuen Spielkonsole veröffentlicht irgendwann ein Mediziner einen Beitrag in einem Fachmagazin. Pflicht-Elemente: ein knalliger Begriff (Nintendinitis, Space-Invaders-Handgelenk), ein beobachteter Fall körperlicher Überanstrengung durchs Spielen und der Hinweis, dass weitere Forschung nötig ist. Ein Blick in die Archive medizinischer Fachmagazine zeigt eine alternative Videospielgeschichte, geschrieben von Ärzten.

Der Playstation-Daumen (2005)

"Eine neue Epidemie unter Kinder" meldet das "South African Medical Journal" im Juni 2005. Der Playstation-Daumen grassiert an südafrikanischen Schulen. Symptome: Blasen, Taubheit, Kribbeln. Grundlage dieses Beitrags: Eine Befragung von 120 Schülern – 60 Jungen, 60 Mädchen. 28 der Jungen spielen regelmäßig, acht von ihnen klagen über Symptome des "Playstation-Daumens". Von den 17 spielenden Mädchen haben sieben ähnliche Beschwerden.
Wiiitis-Entdecker Bonis zitiert diesen Beitrag, über die "Epidemie" hat damals sogar die BBC berichtet. Medienwirksam ist das Alter der Autorin: Safura Abdool Karim war 13 Jahre alt, als der Beitrag erschienen ist. Sie hatte die Umfrage im Rahmen eines Wissenschafts-Projekts an ihrer Schule in Durban durchgeführt. Der stellvertretende Chefredakteur der Fachzeitschrift, Professor Jopie Pretorius van Niekerk von der Universität von Südafrika sagte zur BBC: "Der Beitrag wurde wegen der Leistung akzeptiert. Wir dachten aber auch, dass er großes Vergnügen bereitet."

Eiternde Nintendinitis (2000)

Zum Kinderarzt Guan Koh im australischen Thuringowa kommt im Sommer 2000 ein 9-jähriges Mädchen mit einer merkwürdigen Verletzung auf der rechten Handfläche: eine vereiterte Fläche mit 6 Millimetern Durchmesser, umgeben von einem geröteten Rand.
Koh befragt das Mädchen, es stellt sicht heraus: Ihre zwei Cousins sind die Sommerferien über zu Besuch, haben eine Nintendo-64-Konsole mitgebracht. Und sie spielen zu dritt "Mario Party" – zwei Stunden am Stück. Das Mädchen schlägt mit der Handfläche auf den Joystick. Die Folgen muss Kinderarzt Koh behandeln. Seine Behandlung: 14 Tage Spielverbot und zweimal täglich gewechselte Verbände mit antiseptischer Salbe.

Guan Koh hat auch einen Namen für diese Erkrankung: "Eiternde Nintendinitis" – so die Überschrift seines Beitrag im "Medical Journal of Australia", erschienen im Dezember 2000. Der Beitrag endet mit dem Aufruf: "Wir empfehlen, dass alle Ärzte, die einen Patienten mit ungewöhnlichen Handverletzungen, Epilepsie oder Bewegungskrankheit behandeln, fragen: ‘Spielen Sie interaktive Computerspiele?’"

Der Nintendo-Nacken (1991)

Der kanadische Radiologe David Miller aus Brantford schenkt seinem 13-jährigen Sohn zu Weihnachen 1990 einen Gameboy. Der Beschenkte ist begeistert – zumindest am ersten Weihnachtstag. Am nächsten Tag klagt er über Nackenschmerzen. Und diese Schmerzen müssen, wie Miller in seinem Beitrag für das "Canadian Medical Association Journal" notiert, "sehr heftig gewesen sein, weil er tatsächlich das Spiel aufgab und mit seiner Schwester Barbie spielte".
Schuld ist die ungesunde Haltung des kleinen Miller beim Spielen: "Kinn auf der Brust, Ellbogen gebeugt, den Monitor nah an sein Gesicht haltend", wie der Vater beschreibt. Schon nach 30 Minuten Spiel in solcher Haltung klagt der Sohn über Nackenschmerzen. Eine neue Spielerkrankheit! So etwas ist für Miller nichts Neues – er hatte seinen spielsüchtigen Sohn zuvor schon zweimal "wegen des Atari-Fingers behandeln müssen", wie er schreibt.

Der Radiologe warnt – durchaus selbstkritisch – die Eltern: "Leider sind viele Eltern (einschließlich mir) schuldig, ihren Kindern mehr solcher Spiele zu erlauben, als ihnen gut tut." Und er weiß zu gut, warum: "Aber ja, es ist doch angenehm, wenn sie ruhig sind und an einem Ort bleiben, nicht Frisbee mit den CDs spielen oder den Ninja-Todesgriff an ihrer kleinen Schwester demonstrieren!"

Nintendo-Daumen (1990)

Der US-Rheumatologe Richard Brasington aus Wisconsin beschreibt im "New England Journal of Medicine" vom Mai 1990 einen direkten Vorläufer der Wiiitis, die der Spanier Bonis 17 Jahre später im selben Magazin entdeckt: die Nintendinitis. Brasington hat sie an seiner 35-jährigen Schwägerin beobachtet. Sie spielte an Weihnachten mit der Konsole ihre Sohnes, dem "Super NES" – fünf Stunden ohne Unterbrechung. Am Morgen darauf hat sie starke Schmerzen im Daumen.

Ein Kollege des Rheumatologen Brasington (er nennt ihn "einen anderen erwachsenen Nintendo-Süchtigen") leidet unter ähnlichen Beschwerden. Die Behandlung: Schmerzmittel und Spielverbot. Der Arzt schlägt vor: "Man sollte die Sport-Verletzung Nintendinitis nennen".

Der Begriff macht Karriere: Einen Monat später schreibt die "Washington Post" über die grassierende Nintendinitis, im Dezember 1990, zur Markteinführung des Nintendo Gameboy, schreibt der SPIEGEL dann: "Die Folgen sind absehbar, US-Ärzte haben sie schon bei computerbegeisterten Kindern gefunden: dicke Hornhaut am Daumen, verkrampfte Hand – Diagnose: ‘Nintendinitis’".

Das Space-Invaders-Handgelenk (1981)

Das "New England Journal of Medicine" hat nicht nur die ersten Berichte über die Wiiitis und Nintendinitis veröffentlicht, sondern auch den vermutlich ersten Beitrag über eine Videospiel-Erkrankung überhaupt: 1981 widmete sich ein Bericht des Medizin-Studenten Timothy McCowan aus Little Rock Arkansas (er praktiziert dort heute als Radiologe) dem Phänomen des "Space-Invaders-Handgelenk".
McCowan beobachtete an sich eine "schmerzhafte Steifheit des Handgelenks". Die Ursache: Das wiederholte abrupte Beugen und Strecken des Handgelenks und Unterarms beim Steuern des Spielhallen-Klassikers "Space Invaders".

Im selben Jahr schreiben zwei andere US-Mediziner, Richard Neiman aus Sacramento und Susan Ushiroda aus Portland, im "New England Journal of Medicine" über das Phänomen der "Spielautomaten-Sehnenentzündung" im Allgemeinen. Sie beschreiben die Fälle zweier Frauen, die über Schmerzen in der rechten Schulter klagten, nachdem sie zusammen ein Wochenende in einer Spielhalle verbracht hatten. Die Ärzte empfehlen mit einem Augenzwinkern diese Behandlung: "Ausruhen oder den Jackpot schnell gewinnen." Diesen Grad an Selbstironie hat kein Spiel-Mediziner seither erreicht.

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Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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