Kriegsspiel: Wie preußische Militärs den Rollenspiel-Ahnen erfanden (Spiegel Online, 22.6.2009)
Kriegsspiel
Wie preußische Militärs den Rollenspiel-Ahnen erfanden
200 Jahre vor “Warcraft” entstand in Preußen das Kriegsspiel: Offiziere, Barone und der König entwarfen detaillierte Landkarten als Spielfläche, würfelten Erfolgschancen aus und ließen Spielleiter entscheiden. Ohne ihr Kriegs-Hobby gäbe es kein Fantasy-Rollenspiel.
Spiegel Online, 22.6.2009
Stolz war der preußische Kriegsrat Georg Leopold von Reiswitz schon auf seine Erfindung, einen Spieltisch, mit dem man “denkwürdige Schlachttheater” in “sein Zimmer zaubern” konnte. So pries Reiswitz seine aus Holz, Papier und Metall konstruierte virtuelle Realität 1812 in der Anleitung an. Ein Kriegsspiel hatte er entworfen, um Schlachten zu Hause spielen zu können. Und Reiswitz entwickelte nebenbei sogar Spielmechanismen, die man heute noch in Strategiespielen wie “Warcraft” und Online-Rollenspielen wie “World of Warcraft” entdeckt.
Die 200-jährige Entwicklung von der preußischen Kriegsspiel-Kommode bis zu “World of Warcraft” verläuft extrem verkürzt so: Erst trainierten preußische Militärs an Kriegsspiel-Kommoden, dann vereinfachte der britische Autor H.G. Wells (“Die Zeitmaschine”) 1911 das Kriegsspiel-Konzept zu einem Tabletop-Gesellschaftsspiel und in den sechziger Jahren entwickelten einige Tabletop-Spieler die Regelwerke weiter, um in der Rolle erdachter Charaktere durch Fantasy-Welten zu streifen. Und als Computer schnell und billig genug waren, digitalisierten ein paar Fantasy-Begeisterte die Rollenspiel-Mechanik.
Die erste simulierte Spielwelt
Die Spielelemente, die das preußische Kriegsspiel vorwegnahm, sind heute bei Pen & Paper- und Computerrollenspielen selbstverständlich. Zum Beispiel die Bedeutung einer möglichst detaillierten Landkarte als Spielfeld. In Fantasy-Rollenspielen sind detaillierte Karten so wichtig, weil es eben auch um die Simulation einer erdachten Spielwelt geht. Kriegsrat Georg Leopold von Reiswitz wollte Schlachtfelder simulieren.
Vor Reiswitz nutzen Militärs abstrakte, schachbrettartige Spielfelder. Der Kriegsrat konstruierte 1812 für Preußen-König Friedrich Wilhelm III. einen analogen Spielwelten-Simulator. Heute kann man den taktischen Kriegsspielapparat, wie er da geschlossen im Schloss Charlottenburg, im Erdgeschoss des Neuen Flügels steht, mit einer Kommode verwechseln.
Die Deckplatte lässt sich aufklappen und drehen, so dass man ein in 15 mal 18 quadratische Felder unterteiltes Spielfeld erhält. In elf Schubladen der Kommode liegen quadratische Holzbautsteine, aus denen man sich ein Spielfeld zusammenbauen kann. Da gibt es Berge, Hügel, Wiesen, Wälder, Siedlungen, Flüsse, wie Historiker Philipp Hilgers ( PDF-Dokument) beschreibt, der den Schlachtfeld-Simulator einmal von innen sehen durfte.
Neu war Reiswitz’ Idee, eine Landschaft zu rastern und so spielbar zu machen. Wie der Medienwissenschaftler Claus Pias ( PDF-Dokument) in seiner Analyse des Kriegsspiels erklärt, basieren auf diesem Modularisierungsverfahren “im weitesten Sinne noch alle heutigen Strategiespiele”. Reiswitz trieb zu seiner extrem detaillierten Landkarten-Arbeit (Spielfeld-Maßstab 1:2373) der Wille, Realität nachzubilden.
Denselben Impuls kann man im 20. Jahrhundert bei vielen Fantasy-Schöpfern beobachten: Der Linguist John Ronald Reuel Tolkien etwa begann 1917 während eines Genesungsurlaubs, in einem Notizbüchlein einen Ort namens Mittelerde zu skizzieren. Er wollte keineswegs einen Roman schreiben, sondern Geschichte. Er erfand Sprachen für seine Welt, er zeichnete Stammbäume und irgendwann Landkarten. “Der Herr der Ringe” war nur ein Nebenprodukt dieser Schöpfung, an der Tolkien Jahrzehnte feilte.
Spielbar machten solche Fantasy-Welten dann in den sechziger Jahren ein paar Studenten, die eine naheliegende Idee umsetzten: Sie entwarfen in Anlehnung an das Kriegsspiel (im 20. Jahrhundert als Tabletops oder Konfliktsimulationen bekannt) Regeln, mit denen Spieler statt einer Truppe eine einzige Figur in einer Fantasy-Welt führen konnten.
Kriegsspiel mit Dungeon Master
Bei Pen & Paper-Rollenspielen wie Dungeons & Dragons ist es seit den sechziger Jahren gängig, dass ein sogenannter Dungeon Master als Spielleiter die Schnittstelle zur Spielwelt bildet – er ermittelt und erzählt, welche Wirkungen die Aktionen der Spieler haben. Ab 1974 verbreiteten sich diese Spielleiter rasant durch die ganze westliche Welt: Denn da kam Dungeons & Dragons als kommerzielles Paket auf den Markt.
Der erste Dungeon Master der Geschichte dürfte aber wohl Georg Leopold Baron von Reiswitz gewesen sein: Sein Kriegsspiel sah neben zwei Spielparteien (zwei bis zehn Mitspieler insgesamt) auch eine dritte Funktion vor: den sogenannten Vertrauten. Er “berechnet und bewertet” als “Spielleiter und Recheninstanz die Auswirkungen der pro Spielrunde getätigten Spielzüge”, wie Claus Pias Reiswitz’ Regeln zusammenfasst.
Regeln für mehr Realitätsnähe
Die Regeln, nach denen Reiswitz’ Spielleiter den Spielverlauf zu berechnen hatte, sind konstruiert, um in der Spielwelt eine Realität so glaubwürdig wie möglich zu simulieren. Reiswitz’ Vorgehen dabei erinnert an heutige Rollenspiele.
Da ist der wohl erste Versuch, in einem Spiel das Rollen-Konzept in den Regeln abzubilden. In Reiswitz’ Kriegsspiel konnte in einer Mannschaft ein Oberbefehlshaber mehrere Kommandanten befehligen. Wenn aber ein Blick aufs Spielfeld ergab, dass der Befehlsfluss als unterbrochen anzusehen war und die Kommunikation erst wieder hergestellt werden musste, wie Historiker Hilgers aus Reiswitz’ Anleitung zitiert, durften die Spieler auch keine Order austauschen – es hätte der Situation ihrer Charaktere widersprochen.
Außerdem verlangte Reiswitz, dass sich die Mitglieder einer Mannschaft mit kurzen Notizen auf Karten verständigten, damit die Gegenspieler nichts von den internen Absprachen mitbekamen (In-Character nennen Rollenspieler solches Details heute).
Reiswitz arbeitete sehr detaillierte Regeln aus, um bestimmte Abläufe mit reproduzierbaren Ergebnissen zu simulieren. Einige Details von 1812 erinnern stark an Elemente heutiger Rollenspiel-Konzepte wie Bewegungsfaktor, Trefferpunkte und Rüstungsklasse. Wie schnell sich bestimmte Einheiten bewegen können, gab Reiswitz für jede Einheit in “Schritt pro Minute” an – mit speziellen Zirkeln maßen die Spieler die Entfernungen auf dem Spielfeld ab. Weitere Einschränkungen: Läuft eine Infanterie-Einheit eine Runde lang im Sturmschritt, muss sie sich beim nächsten Zug mindestens eine Gangart langsamer bewegen.
Würfel als Simulationswerkzeug
Der Sohn von Kriegsspiel-Erfinder Georg Leopold von Reiswitz entwickelte das Spielsystem seines Vaters weiter. Der junge Leutnant Georg Heinrich Rudolf Reiswitz systematisierte vor allem den Einsatz von Würfeln. Er legte nach Versuchen auf dem Berliner Schießplatz Mittelwerte zur Wirkung von Waffen fest, verfügte in seiner Neuauflage des Kriegsspiels aber auch, dass man Abweichungen vom Referenzwert zu erwürfeln hat. So ähnlich simulieren die meisten Rollenspiel-Systeme heute noch den Zufall. Auswürfeln mussten die Spieler damals und heute alles erdenkliche – bei Reiswitz junior zum Beispiel, wie geordnet ein Kavallerie-Regiment noch ist, nachdem es einen Abhang hinabgeritten ist.
Der junge Reiswitz war mit seinem Kriegsspiel recht erfolgreich – Friedrich Wilhelm III. spielte es wohl wie schon das Vorgängermodell, sein Sohn Wilhelm I. empfahl es ihm und drängte so lange, bis es preußischen Offizieren vor 185 Jahren offiziell als Trainingswerkzeug empfohlen wurde.
Profitiert hat der junge Reiswitz von der Popularität seines Spiels kaum – er wurde in der Armee wohl gemobbt, in die Provinz versetzt. Er erschoss sich 1827 im Alter von 33 Jahren, sein Vater starb 1829. Hinterlassen haben sie einen Ansatz, erdachte Welten mit Regelbüchern, Würfeln, Papier und Figuren spielbar zu machen. Zum Zeitvertreib wurde das erst im 20. Jahrhundert, nachdem Weltenschöpfer die ersten Fantasy-Welten erschaffen hatten.
Damals, zu Reiswitz’ Zeiten, tauchten nur sehr wenige Menschen in Spielwelten ab. Der König von Preußen zum Beispiel. Das Militär-Wochenblatt berichtet 1874 rückblickend, Friedrich Wilhelm III. habe mit Söhnen, Offizieren und Adjutanten oft bis in die Nacht gespielt, so dass “die sonst zum Auseinandergehen der hohen Familie festgesetzte Stunde, 1/2 11 Uhr, weit überschritten” ( Google-Book) wurde. Die erfundenen Welten entwickelten einen derartigen Sog, dass sich die Spieler die Nächte um die Ohren schlugen.
Und das ist so geblieben.
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