Macht euch locker, ihr Menschen der Zukunft! (telepolis , 12.9.2001)
Macht euch locker, ihr Menschen der Zukunft!
Stanislaw Lem zum achtzigsten Geburtstag
telepolis , 12.9.2001
Prognosen sind eine riskante Sache. Hier nur eine über die nächsten zwei Sekunden: Wer Stanislaw Lem kennt und seine Geschichten vom Piloten Pirx gelesen hat, wird jetzt an zwei Fliegen denken. An jene beiden Fliegen, die während der Abschlussprüfung das Raumschiff Pirx’ kurzschließen, während der verzweifelt versucht, einen Spickzettel unter seinem Pilotensitz verschwinden zu lassen. Nervende Fliegen waren gewiss schon 1968, als die Geschichte des polnischen Science-Fiction -Autors erstmals erschien, ein bekannter Gag. Warum aber ist dann dieser so absurde, komische und für die Zukunft recht vertraute Moment ein so großer?
Wegen der Lockerheit und Beweglichkeit, mit der sich sein Autor der Zukunft nähert. Und wegen des Entwurfs eines Menschen, beziehungsweise einer Geisteshaltung für die Zukunft. Heute vor 80 Jahren wurde Stanislaw Lem im galizischen Lemberg geboren. Seine Bücher haben in 37 Sprachen eine Auflage von fast 30 Millionen Exemplaren erreicht, aber all das ist eigentlich belanglos, sofern man nicht die Methode ihres Autors begreift. Denn sonst kommt man vielleicht zu der Schlussfolgerung, dass Lem, der seit 1986 keine SF-Prosa mehr geschrieben hat, mit dem Alter ernüchtert, skeptisch, ja gar fortschrittskritisch geworden ist. Er sagt ja auch Dinge wie: „Direkte menschliche Kontakte sind unersetzlich. Ich denke dabei nicht an den Kontakt zwischen Mörder und Opfer, sondern an ganz normale Beziehungen zwischen Menschen. Zum Beispiel ist es doch besser, wenn ein Lehrer in unmittelbarem Kontakt mit seiner Klasse, mit seinen Schülern unterrichtet, als wenn da 20 Schüler vor zwanzig verschiedenen Bildschirmen sitzen.“ Manchmal stänkert er auch gegen die Globalisierung an, oder schreibt auf seiner Internetseite (http://www.lem.pl): „Dinge, von denen ich träumte, wurde nicht geschaffen, stattdessen wählte die Welt, was ich für machbar hielt und sich als profitabel erwies“.
Das sind nicht langweilige Stänkereien eines alternden Autors, sonst wäre der Leser gar nicht bis hierher gelangt. Ein wenig von Lems Methode sprüht schon aus diesen Sätzen hervor. Richtig klar wird sie, wenn man sich auf ihren literarischen Grund begibt. Eine jener Entwicklungen, über die sich Lem aufregt, ist die Waschmaschine. „Vor dreißig Jahren habe ich eine groteske Fabel über eine Waschmaschine geschrieben, die den Mann verführen kann, mit der man ein Gespräch führen kann. Und jetzt gibt es schon Maschinen, denen man verschiedene Befehle geben kann“, sagte er im vergangenen Jahr. Gemeint hat er da eine der Erzählungen vom Raumpiloten Ijon Tichy, dem Helden der „Sternentagebücher“. Tichy kehrt von einer Sternenreise zurück und erlebt den Konkurrenzkampf zwischen zwei Waschmaschinenproduzenten. Zunächst kann eine Maschine Weiß- und Buntwäsche unterscheiden, trocknen, bügeln, stopfen, säumen und den Besitzer mit Monogramme erfreuen. Dann stickt die Konkurrenz Sinnsprüche, worauf mit Sonetten reagiert wird. Die nächste Waschmaschinengeneration kann Konversation führen und bekommt menschliche, für gewisse Kunden auch sehr weibliche, Körper. Einige Waschmaschinen werden kriminell und es wird ein Verschrottungsgesetz erlassen. Und jetzt muss man Lem das Wort überlassen: „Schon bald stellte sich aber heraus, dass bestimmte Interessenten verschrottete Waschmaschinen aufkauften und sie rekonstruierten. Der sogenannte Antiauferstehungsentwurf der Novelle zum Mac-Flacon-Gesetz, der daraufhin von einem Kongresssausschuss angenommen wurde, scheiterte am Widerstand des Senators Guggenshyne. Kurze Zeit später kam man dahinter, dass dieser Senator eine Waschmaschine war. Von Stund an wurde es gang und gäbe, die Abgeordneten vor jeder Sitzung abzuklopfen. Traditionsgemäß wird dafür auch heute noch ein zweieinhalb Pfund schwerer Eisenhammer verwendet.“
Lems Methode, mit der Zukunft umzugehen, ist ein Unernst, der ihm die gedankliche Freiheit gibt, sich wirklich ernsthaft mit ihr zu beschäftigen. Lem ist unglaublich witzig, manchmal sogar richtig albern – aber er ist ganz gewiss kein Humorist, sondern einfach ein freier Denker. Sein erster, 1948 entstandener, Roman „Das Hospital der Verklärung“ erzählt nicht von einer Zukunft, sondern vom jungen Arzt Stefan, der erlebt, wie SS-Truppen ein Krankenhaus für Geisteskranke besetzen und die Patienten langsam ermorden. Im selben Zeitraum veröffentlichte Lem in einer Romanheftreihe die SF-Geschichte „Der Mensch vom Mars“. Wie auch der 1951 erschienene Roman „Die Astronauten“ beschreibt „Der Mensch vom Mars“ den Fortschritt der Menschheit, die munter ins All expandiert. Natürlich ist das ein Widerspruch zu der Welt von „Das Hospital der Verklärung“. Diesen Widerspruch hat Lem 1983 selbstkritisch in dem Essay „Mein Leben“ für die „Neue Rundschau“ beschrieben: „Meinen ersten SF-Romanen spreche ich heute jeden Wert ab (ungeachtet des Umstandes, dass sie überall sehr große Auflagen hatten und mich weltbekannt gemacht haben). Ich habe diese ersten Romane wie z.B. „Die Astronauten“ aus Beweggründen geschrieben, die ich heute gut begreife, obzwar sie allen meinen damaligen Lebenserfahrungen zuwiderliefen – in ihrem Handlungsverlauf und in der in ihnen geschilderten Welt. Die ‚böse’ Welt sollte sich in eine ‚gute’ verwandeln.“
Das sind nur zwei Facetten des so vielschichtigen Werks von Stanislaw Lem. Eine dritte ist die Wissenschaft. Lem begann 1939 ein Medizinstudium, das er nach dem Krieg in Krakau fortsetzte und 1948 beendete. Bis 1950 arbeitete er als Assistent am Krakauer Konservatorium für Wissenschaftslehre, wo ihm der Leiter Mieczyslaw Choynowski ein umfassendes Studium der Physik, Biologie, Kosmologie und Philosophie ermöglichte. Und so kommt es, dass Lem 1983 ziemlich genau die heutige wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung der Biotechnologie voraussah. In seinen Beitrag „Prognose über die Entwicklung der Biologie bis zum Jahr 2040“ für das „Heyne Science Fiction Magazin“ zeigte er sich überzeugt, dass „die Ergebnisse der biologischen Forschungen innerhalb des genannten Zeitraums einen neuen Industriezweig begründen werden. […] Das Großkapital ist noch nicht bereit, in diese Gebiete auf breiter Front zu investieren, folglich fehlt es auch der Grundlagenforschung an nennenswerter Unerstützung. Bis zum Ende unseres Jahrhunderts dürfte sich diese Situation zum Besseren wenden.“
Man kann Lem weder der klassischen Science Fiction, noch der Wissenschaft, der Humoristik oder gar den Fortschrittsfeinden zuordnen. Er steht über diesen Dingen und bedient sich doch ständig ihrer Methoden. Eine ähnliche Position nahm er auch gegenüber dem Kommunismus in Polen ein. Man findet in seinen Büchern weder eindeutige Kritik noch eindeutiges Lob, ab und an wird Bürokratie ganz allgemein mit reichlich Ironie bedacht. Lem konnte weitgehend ungehindert in Polen und auch in der Sowjetunion publizieren. 1982 verließ er sein Land – wohl auch wegen der verschärften Unterdrückung und des Kriegsrechts, das 1981 aufgrund der Proteste von Solidarnozc und Streiks ausgerufen wurde – und kehrte nach Zwischenstationen in Berlin und Wien erst 1988 zurück.
Lem wäre nicht Lem, wenn er die Entwicklung der Biotechnologie nur prognostiziert hätte. Natürlich hat sich auch über sie lustig gemacht. In der Kurzgeschichte „Gibt es Sie, Mister Johns?“ verteidigt sich ein Rennfahrer vor Gericht gegen die Besitzansprüche der Cybernetics Company an ihm. Das Unternehmen hat ihm nach seinen zahlreichen Rennunfällen Arm- und Beinprothesen, künstliche Nieren, Kunstherzen, einen Brustkorb, ein Genick, und ein „Elektronengehirn Marke Geniox“ im Gesamtwert von 29863 Dollar zur Verfügung gestellt. Nur hat Johns nicht bezahlt. Die Klage auf Rückgabe aller Prothesen wurde abgelehnt, da dies das Ende von Johns bedeutet hätte. Gegen Ende stellt der Geschichte stellt Johns fest: „Dann ist ja alles ganz einfach: entweder bin ich eine Maschine, dann darf diese Verhandlung gar nicht stattfinden, da eine Maschine in einem Gerichtsverfahren nicht Partei sein darf, oder ich bin keine Maschine, sondern eine Person, und was für Rechte auf mich beansprucht dann irgendeine Firma?“ Als der Bruder als Zeuge gehört werden soll, erhebt die Anklage Einspruch. Er sein Opfer eines Flugzeugabsturzes gewesen und die Cybernetics Company habe „im Auftrag der Witwe einen neuen Bruder des Beklagten hergestellt“. Johns: „Na und? Warum kann der Bruder nicht aussagen? Meine Schwägerin hat doch den Kaufpreis bar bezahlt?“. Des Richter stellt am Ende fest: „In Anbetracht der Notwendigkeit einer Überprüfung zusätzlicher Umstände durch das Gericht – wird die Verhandlung vertagt.“
Lems Thema ist hier wie auch in fast allen anderen seiner Werke nicht so sehr die Zukunft an sich, sondern der Mensch, der geeignet ist für eine solche ist. „Der Test“ ist bezeichnenderweise auch der Titel seiner erste Geschichte über den Piloten Pirx, die 1968 erschien. Pirx ist ein Prototyp des im positiven Sinne unernsten und daher freien Menschen. Pirx ist auch ein Chaot, der während einer Beinahe-Kollision mit dem Mond um seinen Spickzettel besorgt ist. Ein ganz ähnlicher Raumheld ist Ijon Tichy. In einer Geschichte vertritt er die Menschheit bei der Bitte um Aufnahme in die Organisation der Vereinten Planeten. Tichy hat vor der Konferenz Durst und wirft ein wenig Geld in einen Getränkeautomaten. Allerdings ist dieser vermeintliche Automat der Abgesandte vom Planeten Tarrakanien.
Was diese Helden zu Helden macht, spricht Lem in der Geschichte „Die Verhandlung“ ganz offen aus: „So verstanden ist die Menschlichkeit also die Summe all unserer Defekte, Mängel, eben unserer Unvollkommenheit?“ Und das ist natürlich eine rhetorische Frage.
Mit seinen Frotzeleien über Waschmaschinen und Schuhe aus dem Internet, mit seiner Skepsis, seinem Humor und seinen Prognosen hat Lem immer schon die Geisteshaltung skizziert, die wir für die Zukunft brauchen. „Welches ist der Ort, der weder Wände noch Mauer noch Gitter hat und den nie jemand verlassen at und den nie jemand verlassen wird?“, fragt in einem von Lems „Robotermärchen“ ein achtbeiniger Roboterwächter vor einer Schatzkammer. Das ist natürlich der Kosmos. Mag sein, dass es Paralleluniversen gibt – doch wir müssen erst mal mit unserer beschränkten kleinen Zukunft fertig werden. In einem Vorwort zur russischen Ausgabe der Werke Lems schrieb German Titov diesen Satz: „Beim Lesen spürt man plötzlich, in welchen komplizierten Zeiten wir selbst leben.“ Lem zeigt, wie man mit ihnen fertig wird: Macht euch locker und denkt ein bisschen! Danke dafür, Stanislaw Lem.