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Marktforschung per Gesichtsanalyse: Schau mich an - und ich weiß, wer du bist (Spiegel Online, 17.11.2011)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Marktforschung per Gesichtsanalyse

Schau mich an – und ich weiß, wer du bist

Ein Blick ins Schaufenster – und die Videokamera erfasst den potentiellen Kunden, eine Software ermittelt Alter und Geschlecht. In den USA ist diese Form der Marktforschung Realität. Doch bleibt es dabei? Mit einigem Aufwand könnte man auch die Namen von Passanten herausbekommen.

SPIEGEL ONLINE, 17.11.2011

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Ein Passant bleibt stehen, betrachtet den Bildschirm im Schaufenster eines Ladens und sieht einen Spot für Sportschuhe. Eine Kamera über dem Werbedisplay filmt den Betrachter, eine Software wertet die Aufnahmen aus, stellt fest: junger Erwachsener, männlich. Der nächste Clip wirbt dann für eine Biermarke, die sich an junge Männer richtet.

Mit dieser Demonstration wirbt das New Yorker Unternehmen Immersive Labs für sein System zur Gesichtsanalyse. Das Unternehmen verspricht, die Software könne in Echtzeit feststellen, wer da gerade vorm Schaufenster steht: Die Software soll zuverlässig das Geschlecht, das ungefähre Alter, die Verweildauer und die Aufmerksamkeit der Passanten einschätzen. So sollen die Clips passend zur gerade anwesenden Zielgruppe abgespielt werden.

Außerdem will Immersive Labs den Ladenbesitzern eine Publikumsstatistik anbieten, wie man sie von Facebook-Fanseiten kennt: Wie viele Frauen, wie viele Männer welcher Altersgruppe sind wann vor dem Bildschirm stehen geblieben?

Die Software von Immersive Labs soll laut der ” New York Times” noch in diesem Monat in Los Angeles, San Francisco und New York zum Einsatz kommen. Das New Yorker Unternehmen ist einer von vielen Anbietern, die derzeit solche Systeme für Publikumsanalysen in physischen Räumen anbieten.

Die Software erkennt sogar die Stimmung des Betrachters

Viele Firmen arbeiten daran, eine Art Google Analytics über die Realwelt zu stülpen. In Chicago haben gut 50 Bars ein Gesichtsanalysesystem des Unternehmens Scenetap installiert, die Software gibt auf einer Website an, wie hoch derzeit das Durchschnittsalter der Besucher und wie das Frauen-Männer-Verhältnis ist.

Das Kasino-Shopping-Hotel Venetian in Las Vegas nutzt laut ” Los Angeles Times” bereits solche Digital-Werbeplakate mit integrierter Publikumsanalyse. Adidas und der Lebensmittelkonzern Kraft wollen noch in diesem Jahr solche beobachtende Werbung in US-Ladengeschäften testen.

Experten halten die Versprechen dieser Unternehmen zumindest für plausibel. Wie zuverlässig Software allerdings das Geschlecht von Fotografierten im Schummerlicht von Bars erkennen kann, hängt von den eingesetzten Algorithmen ab. Da nicht bekannt ist, welche Verfahren Scenetap einsetzt, kann man darüber nicht urteilen.

Generell spricht nichts dagegen, dass derlei möglich ist. Der Informatiker Ralph Gross von der Carnegie Mellon University führt aus, was generell mit den heute verfügbaren Algorithmen zur Gesichtsentdeckung und -analyse umsetzbar ist:

  • Gesichter werden generell auch in schlechten Lichtverhältnissen gut entdeckt, oft mit einer Trefferquote von 90 Prozent und mehr.
  • Geschlechtserkennung funktioniert auch nachweislich recht gut, in einigen Studien wurden Trefferquoten von nahezu 90 Prozent erreicht.
  • An der Zuordnung von entdeckten Gesichtern zu Altersgruppen arbeiten Forscher erst seit fünf Jahren intensiv, diese Aufgabe ist schwieriger zu lösen, die Trefferquoten sind derzeit niedriger als bei der Geschlechtserkennung.
  • Es gibt mehrere Verfahren, die Aufmerksamkeit messen, zum Beispiel ob eine Person frontal zum Bildschirm steht oder wohin sie blickt – Letzteres ist erheblich schwieriger zu analysieren.

Anbieter dieser Analyseprogramme betonen, dass ihre Systeme nicht die Identität der Gefilmten feststellen. Die Software erkenne nur, ob gerade Gesichter gefilmt werden, nicht zu wem diese Gesichter gehören. Der Begriff Gesichtsdetektion und -analyse ist für solche Verfahren treffender. So nennt zum Beispiel das Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen (IIS) seine Software Shore. Dieses Programm kann von Aufnahmen auf Altersgruppe, Geschlecht, Gesichtsausdruck (fröhlich, traurig) schließen. Außerdem analysiert das Programm die Position von Augen, Mund und Nase, die Neigung und Drehung des Kopfes, und wie weit Augen und Mund geöffnet sind.

Gesichtserkennung ist erst bei Abgleich mit Datenbank möglich

Fraunhofer-Forscher Jens-Uwe Garbas betont: “Eine Erkennung von Personen durch einen Abgleich mit einer Datenbank ist bei unserem Verfahren ausdrücklich nicht möglich.” Außerdem würde die Fraunhofer-Software keine Daten speichern, durch die man auf einen bestimmten Nutzer rückschließen könne.

Auf die Frage, wie schwierig es sei, entsprechende Erkennungsfunktionen nachzurüsten, antwortet Garbas: “Das kommt natürlich auf das System an.” Da es sich bei Shore um ein Detektionsverfahren handele, sei das nur mit erheblichem Aufwand möglich.

Allerdings ließe sich die für Gesichtsdetektion aufgebaute Infrastruktur auch zur GeAsichtserkennung nutzen. Wie nah diese Einsatzszenarien einander sind, zeigt das japanische Unternehmen NEC. Die Firma ist nach eigenen Angaben führend auf dem Markt der biometrischen Lösungen – der Marktanteil liege bei über 60 Prozent. NEC liefert Überwachungslösungen für Flughäfen.

Überwachungsprogramme erkennen Terroristen und Shopper

NEC wirbt in diesem Zusammenhang auch für die eigene Gesichtserkennungssoftware. Sie könnte “Sicherheitsleute benachrichtigen, wenn Reisende als Personen identifiziert werden, die auf einer Beobachtungsliste registriert sind”. Außerdem könne ein System aus Überwachungskameras, Gesichtserkennungssoftware und Porträtdatenbanken auch nach Kriterien durchsucht werden wie: “Kleidung in bestimmten Farben, Accessoires wie Gehstöcke, Geschlecht, Alter und Rasse”.

NEC bietet vergleichbare Technologie auch zur Markforschung an. Die Software FieldAnalyst wertet Video-Feeds von Überwachungskameras aus, um festzustellen, welche Zielgruppen zu welcher Zeit in welchen Bereichen etwa eines Einkaufszentrums zu finden sind. Die Software kann laut NEC-Eigenwerbung Altersgruppen, Geschlecht, Aufenthaltsdauer an bestimmten Orten und Besucherzahlen erfassen – personenbezogene Informationen der Fotografierten würden dabei nicht gespeichert.

Trotz dieser Beteuerungen kann man eines nicht leugnen: Es ist leichter, vorhandene Gesichtsanalyse-Infrastruktur mit Erkennungsprogrammen aufzurüsten, als ein Überwachungssystem neu aufzubauen. Auf diese Tatsache verweist der Informatiker Ralph Gross von der Carnegie Mellon University: “Wenn die Infrastruktur für die Aufnahme, die Bildübertragung und Ergebnisübertragung installiert ist, könnte nur ein Software-Upgrade nötig sein, um eine Identifizierungsfunktion nachzurüsten.”

Datenbanken, über die man Gesichtern Namen zuordnen kann, sind heute schon frei verfügbar. Bei Facebook sind zum Beispiel die Namen und die als Porträtfoto eingestellten Aufnahmen frei zugänglich. Ralph Gross hat mit Kollegen von der Carnegie Mellon University in mehreren Versuchen nachgewiesen, dass es allein mit Hilfe der Facebook-Datenbank und gängiger Gesichtserkennungssoftware möglich ist, in Echtzeit den Namen fotografierter Personen herauszufinden.

Derzeit verhindert allein die verfügbare Rechenkraft, dass man beispielsweise das Porträt eines Unbekannten mit allen Facebook-Profilen in einem Land abgleichen kann. Wie schnell wird sich das ändern? Gross: “Es ist eher eine Frage von wenigen Jahren, bis das möglich ist, zumindest auf Großstadt-Ebene.”

Vielleicht werden dann die Stylingtipps gegen Gesichtserkennung, wie sie der Künstler Adam Harvey gibt, in naher Zukunft in Ratgebern von Datenschützern auftauchen.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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