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Mehr Tiefe im Netz (Süddeutsche Zeitung, 28.1.2003)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Mehr Tiefe im Netz

Dreidimensionale Präsentationen auf Internetseiten haben viele Vorteile, doch erst jetzt kommt der Erfolg

Süddeutsche Zeitung, 28.1.2003

Maler und Bildhauer stritten vor fünf Jahrhunderten, ob mit einer zusätzlichen Dimension bessere Kunst zu machen sei. Leonardo da Vinci glaubte nicht daran, Michelangelo hielt später dagegen: Skulpturen könne man von allen Seiten betrachten, Bilder jedoch böten nur eine einzige Ansicht. Endgültig geklärt ist das noch immer nicht, das zeigt sich auch bei der Visualisierung von Informationen im Internet. Vor zehn Jahren begann der Programmierer Mark Pesce, die Basis für dreidimensionale Netzinhalte zu legen, 1994 wurde nach viel Jubel bei der ersten internationalen World Wide Web-Konferenz der Standard Virtual Reality Markup Language (VRML) daraus. Doch heute stößt man im Netz nur selten auf dreidimensionale Präsentationen. 

Eine neue Software ändert das nun langsam. Auf den Webseiten von Versandhändlern tauchen dreidimensionale Bilder auf, die der Betrachter auf Maus-Klick hin drehen, heranzoomen oder verschieben kann. So lässt sich ein multifunktionales Taschenmesser untersuchen, eine Campinglaterne und ein Radio mit Drehkurbel zur Stromerzeugung. Die Daten sind so detailliert, dass man bei einem Kompass eine Kamerafahrt durch den Schlitz machen kann, mit dem das Instrument abgelesen wird. Und bei einem Werkzeug-Set für Autos taucht der Betrachter durch die äußere Abdeckung, um Zange und Hammer im Inneren aus der Nähe zu betrachten. 
Außerdem lässt sich der dreidimensionale Umgang mit eigentlich flachen Gegenständen simulieren. An Landkarten oder Satellitenbilder kann der Betrachter so näher herangehen. Der Anblick wird dann zunächst unscharf, aber das System lädt die zusätzlichen Daten nach und fokussiert dadurch erneut. 

Die Erfahrungen des US-Versandhändlers Eddie Bauer mit den dreidimensionalen Bildern geben letztlich Michelangelo recht: Nachdem die Modelle im Format Viewpoint Experience Technology (VET) online waren, stiegen die Umsätze um ein Viertel. Björn Hein, dessen Augsburger Firma Dynomedia solche Modelle für Unternehmen wie Fujitsu Siemens entwirft, nennt weitere Folgen: „Eine Untersuchung bei einem unserer größten Kunden zeigt, dass die Interessenten doppelt so lang auf Internetseiten mit dreidimensionalem Inhalt bleiben.“ 
Wissenschaftler überrascht das nicht: „Sinnvoll ist 3D-Visualisierung für alle dreidimensionalen Gegenstände, also für Produkte oder Szenarien wie Häuser und Städte. Auch abstrakte Informationen, wie etwa komplexe Hierarchien, lassen sich besser darstellen“, sagt Raimund Dachselt, der an der Technischen Universität Dresden im Projekt Contigra Werkzeugen für Web-3D-Grafik entwickelt. Die hohen Kosten für die räumlichen Modelle lohnen sich derzeit allerdings vor allem im E-Commerce. Andreas Weckwert von Dynomedia sagt: „Der Nutzer begreift das Objekt viel besser, als er es anhand eines flachen Bildes oder langatmigen Texts tun würde.“ Und das hebt die Umsätze. 

Fast zehn Jahre hat es gedauert von der Definition der VRML-Sprache zu den Elementen auf den E-Commerce-Seiten. „Die Erwartungen wurden zu früh zu hoch geschraubt“, sagt Mark Pesce. Tatsächlich ist die Rechenleistung für solche Aufgaben bei Endanwendern nicht so schnell verfügbar gewesen wie VRML für die Entwickler. Zudem war der sehr allgemeine Standard nur schwer für spezielle Aufgaben zu optimieren. Und schließlich haben sich die Ansprüche gewandelt. „1994 hatten nur wenige Computerspiele 3-D-Grafik. Heute bieten das fast alle Spiele. Diese Revolution wird nicht für immer auf Spiele beschränkt bleiben“, sagt Pesce. 

Heute lassen sich zwei Formattypen unterscheiden. Noch sind vor allem so genannte Pseudo-3D-Lösungen wie Flash und Quicktime verbreitet. Sie nutzen statt dreidimensionaler Modelle einfach mehrere fotografierte Ansichten eines Objekts, die dem Nutzer die Wahl zwischen mehreren Perspektiven ermöglichen. Bei echten 3D-Lösungen dominiert VET, hier kann der Betrachter die fotorealistischen Modelle stufenlos drehen und zoomen. Dafür müssen erstaunlich geringe Datenmengen übertragen werden, weil die relativ kleine mathematische Beschreibung der 3D-Modelle übertragen wird. 

Die Wirkung ist – insbesondere in Kombination mit anderen Medien – verblüffend, auch bei langsamer Internetanbindung. Für eine knapp zweieinhalb Minuten lange Präsentation des neuen VW-Beetle-Cabriolets werden, in der niedrigsten Qualitätsstufe, gerade mal 390 Kilobyte Daten übertragen. Zum Vergleich: Um die Startseite von www.sueddeutsche.de zu sehen, muss der Leser 160Kilobyte laden. Die Beetle-Präsentation umfasst jedoch die Videoaufzeichnung einer Vorstellungsrede des Beetle, zu der parallel die gerade besprochenen Aspekte an einem dreidimensionalen Modell demonstriert werden. Wenn nicht gerade das Dach auf- und zuklappt oder die Kamera über das Armaturenbrett fährt, kann man selbst das Modell nach Belieben drehen und heranzoomen. 
Doch nicht überall nützt die zusätzliche Dimension. Im Netz nachgebaute Kaufhäuser etwa seien Quatsch, findet Robert Massen, Informatik- Professor an der Fachhochschule Konstanz: „Ein E-Käufer weiß in der Regel, was er möchte. Er bummelt nicht ziellos umher. Insofern benötigt er kein nachgebildetes Kaufhaus, wohl aber anschauliche, dreidimensional präsentierte Produkte.“ 

Viewpoints eigene Webseite ist auch klassisch zweidimensional. So weit war schon Michelangelo. Nach vielen Diskussionen befand er, dass es für ihn nun keine Rangunterschiede mehr zwischen den Künsten gäbe – auch wenn die dreidimensionale Bildhauerei ihren Schöpfern eigentlich höheren Adel verleihe.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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