Musikpiraterie-Urteil: 220.000 Dollar für 24 Lieder (Spiegel Online, 5.10.2007)
Musikpiraterie-Urteil
220.000 Dollar für 24 Lieder
Das Urteil dürfte viele Tauschbörsen-Nutzer aufschrecken: Wer Musikdateien auf seinem Rechner für andere freigibt, macht sich strafbar – ganz gleich, ob jemand die Daten herunterlädt oder nicht. Die Musikindustrie jubelt – doch US-Tauschbörsen sind beliebter denn je.
Spiegel Online, 5.10.2007
"November Rain" von Guns ‘N’ Roses und "Let’s wait Awhile" von Janet Jackson – ob diese Songs 9250 Dollar wert sind? So viel muss die Amerikanerin Jammie Thomas, 30, zahlen – für jedes der 24 Musikstücke, die sie über das Tauschbörsen-Programm Kazaa verbreitet hat. Etwa 220.000 Dollar insgesamt. Dieses Grundsatzurteil eines US-Bundesgerichts in Chicago – die erste Tauschbörsen-Entscheidung in solch einer Instanz überhaupt – ist ein Erfolg für die Musikindustrie.
Vor allem, weil der Vorsitzende Richter Michael Davis in einer entscheidenden technischen Frage zur Beweisführung der Argumentation der Musikindustrie folgte: Die Angeklagte machte sich allein durch die Freigabe der Musikstücke für eine etwaige Übertragung über die Tauschbörse schuldig. Wie oft und ob überhaupt jemand Stücke von Thomas’ Rechner heruntergeladen hat, mussten die sechs klagenden Plattenfirmen nicht belegen.
Diese Entscheidung erleichtert der Plattenindustrie die Beweisführung erheblich. Ihr US-Branchenverband RIAA hat nach eigenen Angaben in den Vereinigten Staaten seit 2003 etwa 26.000 Klagen gegen Nutzer von Tauschbörsen angestrengt. Bislang versuchte der Verband aber immer, die Beschuldigten vor dem Beginn eines Prozesses zu einer außergerichtlichen Einigung zu bewegen. Das spart Anwaltskosten und minimiert das Risiko, bei der Beweisführung zu scheitern.
Das Geschäft ging so: Die beschuldigten Tauschbörsen-Nutzer zahlen eine Geldstrafe, die RIAA zieht die Klage zurück. Denn bei einem Prozess drohen den Beklagten existenzvernichtend hohe Geldstrafe.
Solch eine außergerichtliche Einigung hatte die nun verurteilte Jammie Thomas abgelehnt. Sie hoffte offenbar darauf, dass die klagenden Musikfirmen ihr die Schuld nicht nachweisen können.
Nun hat aber die Grundsatzentscheidung in dem Zivilprozess gegen Thomas sehr öffentlichkeitswirksam die Beweisführung für die Plattenindustrie erheblich vereinfacht: Schuldig ist, wer Musikdateien auf seinem Computer für Tauschbörsennutzer freigibt – ganz egal, wie oft diese abgerufen wird. Die Argumentation des Anwalts der Angeklagten Thomas wurde hinfällig. Er hatte noch im Schlussplädoyer betont, dass Thomas die Dateien nie verschickt habe.
Wer Dateien freigibt, macht sich strafbar
Aber darauf kommt es nicht mehr an. Deshalb dürfte das Urteil und die exorbitant hohe Schadensersatzsumme auch viele andere Tauschbörsen-Nutzer ins Grübeln bringen. So könnte mittelfristig das Musikangebot in Tauschbörsen austrocknen.
Entsprechend euphorisch kommentieren Branchenvertreter das Urteil. RIAA-Anwalt und Berater Richard Gabriel sagte der Nachrichtenagentur AP: "Das hier sendet eine klare Botschaft, hoffe ich. Das Herunterladen und Verteilen unserer Musik ist nicht in Ordnung."
US-Recht ermöglicht abschreckenden Schadensersatz
Die abschreckende Summe von 220.000 Dollar resultiert aus einer besonderen Form des Schadensersatzes im US-Recht. Bei sogenannten "statutory damages", also gesetzlich festgelegten Schadensersatzsumme, muss der tatsächliche Schaden nicht beziffert und belegt werden. Nach US-Recht kann der Richter den Schadensersatz zwischen 750 und 30.000 Dollar je Musikstück ansetzen.
Der 1999 erlassene "Digital Theft Deterrence and Copyright Damages Act" sieht bei besonders schweren Urheberrechtsverletzungen im Netz sogar Schadensersatzsummen von bis zu 150.000 Dollar je Musikstück vor.
Für deutsche Nutzer von Tauschbörsen hat das Urteil zunächst keine Bedeutung. Allerdings geht auch hierzulande die Musikindustrie gegen Tauschbrösen-Nutzer vor. Die deutsche Landesgruppe des Musikverbandes IFPI konzentriert sich bei Klagen aber vor allem auf Großanbieter illegaler Kopien von Musikstücken im Netz. So erwirkte die IFPI zum Beispiel im Juli per einstweiliger Verfügung, dass ein Deutscher einen von ihm betriebenen Server der Tauschplattform eDonkey abschaltet (Landgericht Hamburg Az. 308 O 273/07).
Abschreckungs-Strategie funktioniert nicht
Natürlich wird Jammie Thomas die Summe von 220.000 Dollar nie bezahlen können. Insofern dürfte der US-Musikindustrie finanziell kaum an vielen weiteren solcher Prozesse und Urteile gelegen sein. Die zu erwartenden, tatsächlich gezahlten Schadensersatzsummen dürften wohl nicht einmal die Anwaltskosten der RIAA decken. Die RIAA muss also auch nach diesem spektakulären Urteil weiter auf Abschreckung setzen.
Diese Strategie verfolgt die Branche allerdings schon seit Jahren – bislang ohne deutlichen Erfolg. Denn die Tauschbörsen sind heute sogar beliebter als vor Beginn der Klagewelle im April 2003. Das ergab eine Untersuchung ( PDF-Version) der US-Bürgerrechts-Organisation Electronic Frontier Foundation (EFF). Demnach lag die Zahl von gleichzeitig in Tauschbörsen aktiven Nutzern 2007 bei 9,35 Millionen – im Jahr 2003 waren es diesen Zahlen zufolge nur um die drei Millionen Nutzer. Das Fazit der Sekundär-Untersuchung mehrere Analysen: "Das Wachstum der Popularität von P2P-Tauschbörsen hält auch 2006 und 2007 an."
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