Zum Inhalt springen

Nach dem Web-Hype: Verglühte Netzsternchen (Spiegel Online, 24.7.2007)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
6 minuten gelesen

Nach dem Web-Hype

Verglühte Netzsternchen

Dick, tapsig, peinlich, aber irgendwie sympathisch: Brolsma, “Tourist Guy” oder “Star Wars Kid” machten sich vor Millionenpublikum im Internet zum Affen, mussten Spott und Häme einstecken. Manche der Kurzzeitpromis leiden noch immer, andere verdienen damit heute ihr Geld.

Spiegel Online, 24.7.2007

{jumi [/images/jumisk/sharethis.php]}

Ein dicker Junge sitzt in einem kärglichen Zimmer vor seinem Computer, das Monitorbild spiegelt sich in seiner Brille. Ein rumänisches Poplied wummert aus dem Computer, er reißt die Arme hoch, haut sie zum Bass in die Luft, der Schreibtisch wackelt, ebenso die Webcam, die all das filmt. Der Junge singt: “Ma-ia-hii, mai-ia-huu, mai-hoo, ma-ia-haha”. Das 97-Sekunden-Filmchen hat Gary Brolsma Nikolaus 2004 ins Internet gestellt – um ein paar Freunde zu unterhalten, wie er immer wieder erklärte.

{youtube}60og9gwKh1o{/youtube}

Heute, zweieinhalb Jahre später kennt den Jungen aus New Jersey fast jeder Netz-Nutzer. 700 Millionen Menschen haben das Video gesehen, schätzte die britische Marketing-Beratung “The Viral Factory” im November 2006. Brolsma ist der “Numa Numa”-Typ – 106.000 Treffer zeigt Google für Gary Brolsma, 1,3 Millionen für Numa, Numa, eine Textzeile aus jenem unsäglichen Pop-Lied.

{jumi [/images/jumisk/google420.php]}

Eine Zeit lang hat Brolsma versucht, den Wirbel um sein Filmchen zu ignorieren. Nach ersten Auftritten bei den großen US-TV-Sendern hat er keine Interviews mehr gegeben, einen Auftritt bei NBC sagte er ab, mit der “New York Times” sprach er nicht, die ihn am 26. Februar 2005 auf der Titelseite erwähnte – als “unfreiwilligen, peinlich berührten” Star.

Inzwischen hat sich Brolsma mit seinem Image als dicker Karaoke-Komiker, als “Numa Numa”-Typ arrangiert. Er präsentiert sich wieder im Netz. Aber über sein Leben verrät Gary Brolsma kaum etwas auf seiner Seite: Gitarre lernt er, produziert selbst etwas Techno. Seine Berühmtheit will er jetzt nutzen, um Geld zu verdienen.

Jetzt vermarktet Brolsma sein Image

Im vorigen September brachte Brolsma ein Video zu einem russischen Pop-Titel heraus, der eigens für ihn geschrieben wurde. Produziert und vermarktet wird der Song von einem E-Commerce-Unternehmen. Das neue Video kommt auf YouTube gut an, aber keinesfalls spektakulär.

Rund sechs Millionen Zuschauer in zehn Monaten – das reicht zwar nur für Platz 68 der meistgesehenen YouTube-Clips aller Zeiten. Aber trotzdem: Brolsmas Vermarkter haben einen Sponsoring-Partner gewonnen – einen Hersteller drahtloser Kopfhörer. Interviews mit Brolsma kosten inzwischen Geld: 300 Dollar via Webcam, 100 Dollar via E-Mail, erklärte Brolsmas Assistent James Egge auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE.

Brolsma hat seine Bekanntheit professionell genutzt. Doch andere wollten nie in die Öffentlichkeit, leiden noch immer. SPIEGEL ONLINE hat den Geschichten der Netzsterne wider Willen nachgespürt.

Der unglücklichste Star-Wars-Fan

Brille, Übergewicht, etwas zu enge Kleidung: Der kanadische Junge, der als “Stars Wars Kid” bekannt wurde, ähnelt Gary Brolsma – doch seine Geschichte ist eine andere. Er wollte nie ein Internetstar werden, er leidet bis heute unter der Bekanntheit, dem Spott, der Häme.

Im November 2002 drehte er ein Video, in dem er einen Golfballsammler schwingt wie die Helden in “Star Wars” ihre Lichtschwerter. Dummerweise vergaß der Junge die Videokassette in der Schule. Klassenkameraden fanden das Filmchen, verbreiteten es Anfang 2003 über Tauschbörsen – ohne Wissen des Helden.

“Star Wars Kid”, so heißt der Junge seitdem im Internet. Rund eine Milliarde Mal soll seine “Star Wars”-Hommage, die nie für die Öffentlichkeit bestimmt war, im Netz angeschaut worden sein. Das populärste virale Video bislang, schätzt die britische Marketing-Beratung “The Viral Factory”.

“Star Wars Kid” wurde der Junge auch an seiner Schule genannt. An der High School der Kleinstadt konnte er sich nicht bewegen, ohne gehänselt zu werden: “Irgendwer war immer da, der ‘Star Wars Kid’, ‘Star Wars Kid’ rief. Es war unerträglich”, klagte der Junge im vorigen Jahr in der kanadischen Zeitung “The Globe and Mail”. Wegen der Häme und des Gespötts verließ er die Schule, lernte dann zu Hause mit einem Privatlehrer.

Der Junge hinter dem “Star Wars Kid” wollte nie in die Öffentlichkeit. Seine Eltern haben die vier Mitschüler verklagt, die das Video ins Internet gebracht hatten. Forderung: umgerechnet knapp eine Viertel Million Euro Entschädigung.

Im April 2006 einigten sich Kläger und Beklagte kurz vor der Verhandlung außergerichtlich. Ob Schadenersatz gezahlt wurde, ist nicht bekannt.

Matt Harding tanzt einmal um die Welt

Nur einmal flog er aus dem Fernsehprogramm: Am 8. September 2005 war das, da erschien Wirbelsturm “Katrina” dem US-Frühstücksfernsehen “Good Morning America” wichtiger als der tanzende Matt Harding. Ansonsten war der 30-jährige Amerikaner bei fast allen US-Sendern zu sehen: Er tanzt eine Art Ententanz vor den Sehenswürdigkeiten dieser Welt – und filmt sich dabei.

{youtube}bNF_P281Uu4{/youtube}

Damit hat Harding es für einige Zeit unter die 30 meist gesehenen Anbieter auf YouTube geschafft. 2003 war der Computerspiel-Designer zu seiner ersten Weltreise aufgebrochen, fuhr so lange um den Globus, wie seine Ersparnisse reichten. Auf die Idee zu den komischen Tänzen vor Sehenswürdigkeiten brachte ihn ein Mitreisender, der ihn auch filmte. Matt Harding tanzte in Hanoi, Peking, Moskau, auf dem Kilimandscharo. Nette Urlaubserinnerungen, dachte er sich, stellte die Videos online – und wurde vom Erfolg komplett überrascht.

Es folgten Fernsehauftritte, Interviews, der ganze Netz-Hype. Noch heute, zwei Jahre nach seinem ersten Erfolg profitiert Harding von diesem Ruhm. Auch dieses Jahr reiste er wieder um die Welt – gesponsert von einem US-Kaugummi-Hersteller, der Hardings Tanzvideos als Werbung nutzt.

Damit scheint Harding gut zu verdienen. Er sagt zu SPIEGEL ONLINE: “Fast alles, was ich seit dem ersten Video gemacht habe, hat irgendwie damit zu tun. Ich kann von den Tanzvideos leben, aber über Zahlen rede ich nicht.” Mit dem Netzruhm hat er vor allem gute Erfahrungen gemacht: Die Menschen erkennen ihn auf der Straße – aber nur wenn er tanzt, sagt er. Einige Dutzend Anfragen bekomme er täglich per E-Mail, erzählt er. Seine unangenehmste Erfahrung? “Kommentare von Menschen, die wütend sind, weil ich nicht in ihrem Land getanzt habe.”

Ein Informatiker im Filmkostüm

Es sollte ein möglichst ungewöhnliches Kostüm werden, mit dem er bei der Penguicon 2003 punkten wollte – einem Treffen für Open-Source, Science-Fiction- und Fantasy-Fans. So bastelte sich der Informatiker Jay Maynard seine Verkleidung selbst: ein leuchtender Plastik-Panzer an Schultern, Rücken und Armen, dazu Leggings und ein hautenger weißer Anzug. So ähnlich sahen die Helden in der Computerwelt des Spielfilms “Tron” aus – allerdings haben die nicht den Bauchansatz, die Brille und den Schnurrbart von Maynard.

Tatsächlich gewann der Informatiker mit dem Outfit den Preis für das technisch beste Kostüm – und dokumentierte seine Konstruktion minutiös im Netz. Nach Hinweisen in Web-Magazinen wie “Slashdot” wurde Maynards Seite sehr schnell sehr berühmt. Sein erstes Interview gab er im Mai 2004 in der US-Talk-Show “Jimmy Kimmel Live”, inzwischen hat Maynard einen Wikipedia-Eintrag. “Drei oder vier Monate lang war das sehr intensiv”, erinnert er sich heute: “Ich hatte jeden Tag damit zu tun.” Heute noch bekommt er Anfragen von Fernsehsendern.

Diese ersten Wochen waren schlimm, als “Tausende von Leuten im Netz mein Kostüm kommentierten und fast nur negative Dinge sagten”. Maynard selbst hat in dem Wikipedia-Eintrag zu seiner Person geschrieben: “Sein übergewichtiges Äußeres und sein hautenges Kostüm waren Gegenstand von viel Spott im Netz.” Inzwischen hat ein anderer, weniger harter Wikipedia-Autor diesen Satz getilgt.

Mit der Zeit änderte sich der Ton, wurde freundlicher. Maynard erzählt heute: “Nach der ersten Phase, die mich sehr traurig gemacht hat, war das Feedback meistens angenehm. Ich habe dadurch einige nette Menschen getroffen.” Nach drei Jahren zieht Maynard ein positives Fazit seines Netz-Ruhms. Geld habe er nur einmal verdient, für den Talkshow-Auftritt – “eine ordentlich fünfstellige Summe” immerhin. Aber wichtiger ist ihm das: “Ich bin in der Öffentlichkeit viel selbstbewusster. Nachdem mich das Fernsehen landesweit so gezeigt hat, ist mir fast nichts mehr peinlich.”

Ohne sein Kostüm erkennen ihn nur wenige Menschen auf der Straße. Maynard lebt noch immer in seiner 11.000-Seelen-Gemeinde Fairmont in Minnesota.

Forrest Gump wider Willen

Man hat ihn schon überall gesehen: Auf Fotos des World Trade Centers, der Explosion der Hindenburg und der Ermordung John F. Kennedys – überall steht der unauffällige hagere Mann mit Pudelmütze und Rucksack. Abertausende Fotomontagen kursieren im Netz. Als “Tourist Guy” hat er gut 2,5 Millionen Google-Treffer.

Der Mann auf diesen Bildern hat es allerdings geschafft, seinen wahren Namen zu verschweigen. Nicht mal 600 Seiten mit seinem vollen Namen findet Google – und dass, obwohl die Bilder seit sechs Jahren im Netz auftauchen.

Der Ungar hat 2001 – kurz nach den Anschlägen auf die Twin Towers in New York – eine Fotomontage an einige Freunde gemailt: In ein Bild, das ihn 1997 auf dem World Trade Center zeigt, hat er ein Flugzeug montiert, das auf das Gebäude zusteuert. Monatelang wurde im Netz die Herkunft der Fotos diskutiert. Ein Brasilianer behauptete, der Mann auf dem Foto zu sein, bekam fast einen Werbevertrag. Ende November 2001 schickte der Ungar schließlich Beweisfotos an das US-Magazin “Wired” – mit der Bitte, die Diskussion zu beenden und seinen Nachnamen nicht zu nennen. Begründung: Er wolle kein Internet-Freak werden.

In seiner E-Mail damals schrieb er: “Ich will meine Identität geheim halten. Das war als ein Witz für meine Freunde gedacht, nicht für ein so großes Publikum.” Das hat er geschafft – als einer der wenigen glücklichen Netzsterne wider Willen.

{jumi [/images/jumisk/google720.php]}

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
Immer gut: Newsletter abonnieren


auch interessant

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Der common senf aktueller Debatten um Staatsausgaben, Tarifverhandlungen und Zinspolitik scheint mir gerade ein gefährlicher: Alle sollen sparen. Der Staat soll weniger ausgeben und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Arbeitnehmer sollen Reallohnverluste akzeptieren, sparen und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Und Unternehmen sollen sparen, bloß keine Kredite aufnehmen für Investitionen

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Paradox der Gegenwart

Einerseits sehen so viele Menschen ihre individuellen (Konsum)Bedürfnisse als das wichtigste Gut, als absolut schützenswert. Überspitzte Maxime: Was ich will, ist heilig – alles geht vom Individuum aus. Andererseits erscheint genauso viele Menschen das Individuum ganz klein, wenn es darum geht, etwas zu verändern in der Welt. Überspitzte Maxime: Ich

Paradox der Gegenwart

Wie Schmecken funktioniert

Gelernt: Geschmack und Aroma sind zwei ganz unterschiedliche Wahrnehmungen. Für jede ist ein anderer Teil im Gehirn verantwortlich. Und jede basiert auf unterschiedlichen Daten: Für den Geschmack kommen Eindrücke von der Zunge, fürs Aroma von Rezeptoren in der Nase. Beides vermischt das Gehirn zum Gesamteindruck Schmecken. Sehr lesenswerter Aufsatz darüber

Wie Schmecken funktioniert