Zum Inhalt springen

Netz-Lexikon: Wiki-Scanner spürt Manipulationen auf (Spiegel Online, 16.8.2007)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
6 minuten gelesen

Netz-Lexikon

Wiki-Scanner spürt Manipulationen auf

Was haben Scientology, Wal-Mart, al-Dschasira und die CIA gemeinsam? Sie alle schreiben heimlich das globale Internet-Lexikon Wikipedia um. Doch mit dem Wiki-Scanner kommt die Community den Maulwürfen jetzt mühelos auf die Schliche.

Spiegel Online, 16.8.2007, mit Christian Stöcker und Frank Patalong

Am 15. Dezember 2005 erlaubt sich jemand aus dem Computernetz des US-Geheimdiensts CIA einen Scherz: Er doktert nachmittags um kurz vor fünf am Wikipedia-Eintrag über den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad herum, schreibt vor die Beschreibung des Wahlkampfs Ahmadinedschads den wütenden Ausruf "Wahhhhhh!". Und dann schreibt der CIA-Mitarbeiter noch eine gute Stunde weiter in die Wikipedia, referiert über Nepals Hauptstadt Katmandu und die Geschichte der US-Hauptstadt Washington.

Bislang war von den Schöpfern solcher Änderungen bloß eine Nummer bekannt. Die Wikipedia-Datenbank hat bei anonymen Änderungen nur erfasst, von welcher Internetprotokoll-Adresse sie ausging. Der CIA-Mitarbeiter stand als "198.81.129.193" in der Änderungsgeschichte des Ahmadinedschad-Eintrags. Nun spürt ein Programm des US-Hackers Virgil Griffith die Organisationen hinter den Nummern auf.
Der Wiki-Scanner des 24-jährigen Studenten vom "California Institute of Technology" durchforstet systematisch das Gemeinschafts-Lexikon und verknüpft Informationen, die man bislang nur sehr mühsam zusammenfügen konnte: 34,4 Millionen Änderungen an der englischsprachigen Wikipedia, ausgeführt von 2,6 Millionen Firmen, Behörden und Organisationen verknüpft der Wiki-Scanner – mit Hilfe der IP-Adressdatenbank eines großen Anbieters. Der Datenbestand ist derzeit allerdings statisch: Erfasst sind nur die Änderungen bis zum 4. August 2007.

Das Ergebnis: Noch nie war so transparent, wer bei Wikipedia unter dem Deckmantel der Anonymität Artikel ergänzt, verunstaltet, schönt, zu Werbetexten umfunktioniert. Die dazu notwendigen Informationen sind eigentlich frei verfügbar. Bisher hat sie nur niemand verknüpft. Viele IP-Adressen kann man mit speziellen Datenbanken eindeutig Besitzern zuordnen. Denn große Unternehmen, Organisationen und Behören haben meist feste IP-Adressbereiche. Das macht der Wikipedia-Scanner automatisch.

Nicht erfasst: Privat-Surfer und echte Profis

Außerdem verrät die Software nicht nur, wer einen bestimmten Artikel verändert hat. Der Wiki-Scanner kann auch anzeigen, an welchen Artikeln sich anonyme Autoren aus dem Computernetz einer bestimmten Firma zu schaffen gemacht haben. Wer das veranlasst hat und warum, verrät die Software natürlich nicht. Wer am Arbeitsplatz professionell manipuliert, dürfte ohnehin die IP-Adresse über einen Anonymisierungsdienst tarnen. Oder von zu Hause aus das Lexikon umschreiben – denn da registriert Wikipedia nur die IP-Adresse des Internetproviders. Die ist meist wenig aussagefähig – mit "T-Online" kann jeder surfen.

Hacker Griffith beschreibt sein Ziel auf seiner Seite so: "Kleine PR-Desaster für Firmen und Organisationen schaffen, die ich nicht mag." Das könnte tatsächlich funktionieren. Der Wiki-Scanner beweist zumindest, dass Artikel-Änderungen aus bestimmten Computernetzen kamen. Wer und warum da jemand umgeschrieben hat, weiß man natürlich nicht. Wobei die Art mancher Änderungen einiges über die Motivation verrät.

Aber der Wiki-Scanner soll nicht nur Fälscher enthüllen, sondern auch die Qualität der Wikipedia verbessern. Griffith erklärt auf seiner Projektseite: "Bei kontroversen Themen können technische Hilfsmittel wie dieses die Wikipedia zuverlässiger machen." Denn der Scanner macht transparent, in welchem Maß Änderungen aus einer bestimmten Richtung kommen. Wenn alle denselben Tenor haben, dürfte Wikipedia-Nutzern die Glaubwürdigkeit dieser Aussagen schnell klar werden.

Inzwischen ist das neue Werkzeug bereits zu einem Kampfinstrument verschiedenster Wikipedia-Fraktionen geworden: Bei "Wired" kann man bereits abstimmen, welche Änderungen man für besonders verbrecherisch hält, und schon stehen sich die Rechten und die Linken in den USA wieder unversöhnlich gegenüber. Aus dem Adressbereich des Hauptquartiers der US-Demokraten wurden Beschimpfungen in den Eintrag des konservativen Talkmasters Rush Limbaugh eingefügt, schäumen die einen. Die Republikaner haben aus amerikanischen Besatzern im Irak amerikanische Befreier gemacht, kritisieren die anderen.

Anderer Ansatz: Vertrauens-Färbung

Wikipedia-Änderungen will auch der Informatiker Luca de Alfaro von University of California transparenter machen. Sein Ansatz ist aber ein anderer: Er denkt, dass manche anonymen Änderungen durchaus positiv für die Wikipedia-Qualität sind. Mitarbeiter eines IT-Konzern würden zum Beispiel kaum technische Details in Einträgen ergänzen, wenn ihre Arbeitgeber wüssten, dass sie dort ihr Expertenwissen der Allgemeinheit verfügbar machen.

Deshalb versucht de Alfaro nicht herauszufinden, wer hinter einer Änderung steckt, sondern wie gut die bisherigen Beiträge eines Autors bei anderen Wikipedianern ankommen. De Alfaros Software markiert die Textpassagen eines Wikipedia-Eintrags je nach dem Ruf des Verfassers. Die Vertrauens-Färbung funktioniert so: Je dunkler ein Eintrag, desto neuer ist der Autor bei Wikipedia. Frische Änderungen eines ganz neuen Nutzers sind tieforange, die eines erfahrenen Nutzers heller. Wenn niemand sie überarbeitet, wird die Farbe mit der Zeit immer blasser – weil Wikipedianer sie offenbar für zuverlässig halten.

Wiki-Scanner bald für die deutsche Wikipedia

De Alfaro vergleicht gegenüber SPIEGEL ONLINE beide Programme: "Wikiscanner verrät etwas über die scheinbare Zugehörigkeit des Autors, die Vertrauens-Färbung etwas über die Verlässlichkeit eines Beitrags." Beide Systeme ergänzen sich, verschaffen Wikipedia eine neue Transparenz – bislang aber nur der englischsprachigen Variante des Lexikons. Gegenüber SPIEGEL ONLINE kündigt Hacker Griffith aber an, in den kommenden Tagen einen Scanner der deutschsprachigen Wikipedia online zu stellen: "Ich habe die Daten schon runtergeladen, mein Programm verarbeitet sie gerade."

Scientology, SAP, DaimlerChrysler – fünf Beispiele für Wikipedia-Umschreiber mit Tarnkappe

Wal-Mart: Löhne okay, Stütze der US-Wirtschaft

Anonyme Wikipedia-Autoren mit IP-Adresse des US-Einzelhandelskonzerns Wal-Mart schreiben Einträge über eben diese Firma um. Am 5. Mai 2005 zum Beispiel löscht jemand die Behauptung, dass 2004 etwa 70 Prozent der bei Wal-Mart verkauften Güter zumindest teilweise in China hergestellt worden sind. Der anonyme Autor aus dem Wal-Mart-Netz ersetzt dieses Detail durch den Hinweis: "Wal-Mart kauft Güter und Dienstleistungen von mehr als 68.000 US-Zulieferern und unterstützt so mehr als 3,5 Millionen Arbeitsplätze in den Vereinigten Staaten." Also: alles ganz wunderbar.

Etwas früher am selben Abend hatte jemand mit derselben IP-Adresse aus dem Wal-Mart-Netz Details zu den Löhnen bei Wal-Mart geschönt. Vor der Veränderungen stand bei Wikipedia, die Löhne dort seien um etwa ein Fünftel niedriger als bei anderen Einzelhändlern. Nach der anonymen Redaktion hieß es: "Der Durchschnittslohn bei Wal-Mart ist fast doppelt so hoch wie das nationale Mindesteinkommen."

Holocaust-Vergleich aus al-Dschasiras Netzwerk

Aus dem Adressbereich des arabischen Fernsehsenders al-Dschasira kam im April 2006 eine Änderung an einem der am härtesten umkämpften aller Wikipedia-Einträge: Dem über den Staat Israel. Der anonyme Hobby-Historiker versah den Eintrag mit einer Einleitung, in der unter anderem behauptet wurde, Juden hätten die Palästinenser so behandelt wie Hitler die Juden. Zudem seien sie "das erste Volk" gewesen, das "in der Region terroristische Attacken durchgeführt" hätte. Der Fall zeigt auch, wie gut gerade an solchen neuralgischen Punkten das Selbstreinigungs-System der Online-Enzyklopädie funktioniert: Schon zwei Minuten später war die hasserfüllte Passage wieder aus dem Israel-Eintrag verschwunden.

DaimlerChrysler schreibt über Verkehrssicherheit

Diszipliniert: Wiki-Aktive gibt es im Hause DaimlerChrysler genug, doch in eigener Sache wird da niemand tätig. Ganz vereinzelt fügt mal ein Mitarbeiter eine Kleinigkeit in Wiki-Artikel wie "Verkehrssicherheit" ein, doch weit häufiger finden sich Daimler-Beiträge in Themenbereichen wie Nahostkonflikt, Grammatik, Geschichte der nordamerikanischen Urbevölkerung, Science-Fiction-Filme oder Franz Josef Strauß.

SAP ist toll

Beim deutschen Software-Riesen SAP gibt es offenbar einige begeisterte Wikipedia-Autoren, die anonym das Web-Lexikon verbessern: 1476 anonyme Änderungen kamen zwischen 2002 und 2007 aus dem SAP-Computernetz am Stammsitz in Walldorf. Hinter den meisten Artikel darf man wohl Programmierer vermuten. Da geht es um Progammierer-Werkzeuge für die Unified Modeling Language, Fraktale, Science-Fiction und die Geschichte des Windows-Spiels "Minesweeper".

Auffällig ist aber, wie viele Wikipedianer anscheinend aus dem SAP-Netz auf Englisch über sehr spezielle Themen aus Indien schreiben – über den Regierungsbezirk Hyderabad, die "Indian Institutes of Management" und sehr ausgiebig über eine Brahmanen-Gruppe. Gut 40 Ergänzungen hat jemand aus dem SAP-Netz zum Beitrag über die "Rajapur Saraswat Brahmins" verfasst. Arbeiten Programmierer aus Indien in Walldorf?

Für SAP peinliche Schönungsversuche spürt der Wikiscanner nur sehr vereinzelt auf: Da hat im Juni jemand den ersten Satz im SAP-Artikel so ergänzt. "SAP ist toll". Drei Minuten später überlegte der Hochjubler sich das wohl und strich den Beitrag. Subtiler veränderte am 22. Mai dieses Jahres ein Autor mit eine SAP-IP-Adresse einen Eintrag über das Programm "SAP Knowledge Warehouse": Vorher stand da, ein Vorteil des Systems sei, dass es mit "einer kompletten, offiziellen (aber oft mangelhaften) SAP-Dokumentation" ausgeliefert werde. Den Hinweis zur Qualität der Dokumentation strich jemand aus dem SAP-Netz am 22. Mai.

© SPIEGEL ONLINE 2007
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
Immer gut: Newsletter abonnieren


auch interessant

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Der common senf aktueller Debatten um Staatsausgaben, Tarifverhandlungen und Zinspolitik scheint mir gerade ein gefährlicher: Alle sollen sparen. Der Staat soll weniger ausgeben und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Arbeitnehmer sollen Reallohnverluste akzeptieren, sparen und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Und Unternehmen sollen sparen, bloß keine Kredite aufnehmen für Investitionen

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Paradox der Gegenwart

Einerseits sehen so viele Menschen ihre individuellen (Konsum)Bedürfnisse als das wichtigste Gut, als absolut schützenswert. Überspitzte Maxime: Was ich will, ist heilig – alles geht vom Individuum aus. Andererseits erscheint genauso viele Menschen das Individuum ganz klein, wenn es darum geht, etwas zu verändern in der Welt. Überspitzte Maxime: Ich

Paradox der Gegenwart

Wie Schmecken funktioniert

Gelernt: Geschmack und Aroma sind zwei ganz unterschiedliche Wahrnehmungen. Für jede ist ein anderer Teil im Gehirn verantwortlich. Und jede basiert auf unterschiedlichen Daten: Für den Geschmack kommen Eindrücke von der Zunge, fürs Aroma von Rezeptoren in der Nase. Beides vermischt das Gehirn zum Gesamteindruck Schmecken. Sehr lesenswerter Aufsatz darüber

Wie Schmecken funktioniert