Neue Heimatkultur (taz, 24.4.2003)
Neue Heimatkultur
Neue Ideen für Computerspiele entstehen heute besonders in regionalen Marktnischen. Die Anführer der Branche setzen lieber auf sichere Gewinne mit Lizenzen von erfolgreichen Kinofilmen
taz, 24.4.2003
Wenn am 22. Mai der Film „Matrix Reloaded" startet, werden Computerspieler einige Stellen besser und anders verstehen als der Rest. Denn sie kennen wichtige Fragmente der Vorgeschichte – aus dem Computerspiel „Enter the Matrix", das eine Woche vorher in Deutschland erscheint. Inhalte und weltweiten Veröffentlichungstermine sind perfekt aufeinander abgestimmt. Selten zuvor wurden Vermarktungssynergien so perfektionisiert und so augenfällig: Das Spiel besteht zwar auch aus Elementen bekannter Actiongames, vor allem aber aus von den Wachowski-Brüdern gedrehten Szenen – und natürlich der entsprechenden Lizenz.
Lizenzen sind ein schönes Geschäft für mindestens zwei Parteien: Filmproduzenten freuen sich über die Nebeneinnahmen, die Spieleverlage über die gesicherten Verkaufszahlen durch den bekannten Titel. Die Kunden sind jedoch geteilter Meinung: Viele mögen die Atmosphäre der lizensierten Erzählstoffe. Einige, meist ältere Spieler monieren jedoch, dass das Spielprinzip häufig alt ist, wenn auch meist sehr ordentlich umgesetzt. Die wenigen wirklichen neuen Spielideen oder innovativen Neuauflagen der vergangenen Jahre wie „Pikmin“, „Halo“ oder „Metroid Prime“ kamen jedoch allesamt ohne Lizenzen aus. Mittelfristig könnte dieses neue, alte Rezept für sicheren Gewinn der Spielindustrie mittelfristig schaden. Denn woher sollen Innovation kommen, wenn Spiele lizensierte Desiderate des globalen Massengeschmacks recyclen, statt eigene Stoffe zu entwickeln?
Bei den großen Verlagen stehen die Chancen für solche riskanten Experimente schlecht. Der Designer Ed Bartlett, der beim Entwickler „Bitmap Brothers" die Entwicklung neuer Stoffe leitet, gebraucht die Namen mancher Großverlage sogar synonym mit Innovationshemmung: „Die Spielindustrie erreicht nun das Stadium eines Massenmarkts, auf dem sogar die Hardcore-Spieler durch die EA Kunden [Electronic Arts ist der international größte Spieleverlag] übertroffen werden, die vor allem die neusten Sportspiele einer bekannten Reihe, Lizenzen oder Blockbuster wollen."
60 bis 70 Prozent der erscheinenden Spiele sind Fortsetzungen, Teile einer Produktreihe oder Lizenztitel – das sagen die Zahlen der in der Spielindustrie arbeitenden britischen Risiko-Managment-Firma „Wise Monkey". Der Grund: Die Entwicklungskosten für Spiele sind noch schneller gestiegen als die Umsätze und Gewinne – in den vergangenen zehn Jahren auf das Zehnfache, im Durchschnitt 3 bis 6 Millionen Euro je Titel. Die Folgen beschreibt Bob Hopkins von „Wise Monkey" so: „Die Verlage sind nicht willens, Prototypen neuartiger Spiele zu finanzieren. Man kann kommerzielle Risiken durch Lizenzen, Franchise-Bildung und populäre Themen senken."
Doch es gibt Wege, die Umsetzung innovativer Spielideen zu finanzieren, ohne von Anfang an die großen Verlage einzubinden – obwohl diese 90 Prozent der in Europa verkauften Produkte vertreiben und zumeist schon davor betreut haben. Ein Weg sind nationale Märkte. Der japanischen Begeisterung für Musikspiele ist zum Beispiel der Playstation-Titel „Vib Ribbon“ zu verdanken. Das Spiel berechnet aus beliebiger Musik zweidimensionale, im Takt pulsierende Landschaften, deren Hindernisse der Spieler überwinden muss. Die Entwicklung und den Vertrieb konnte der Hersteller „Nana On-Sha“ wegen des relativ sicheren Absatzes auf dem japanischen Markt finanzieren. Ähnliches gilt für den zurzeit entwickelten Titel „Mojib Ribbon“, der basierend auf beliebigen Texten Landschaften berechnen wird. Ohne den kulturellen Status von Kaligrafie in Japan und die daraus abzuleitenden Verkaufsaussichten wäre auch dieser Titel kaum zu finanzieren.
Ein anderes Beispiel für die Bedeutung des kulturellen Hintergrunds ist das Strategiespiel „Knights of the Cross“ des polnischen Entwicklers „IM Group“. Das Spiel basiert auf dem Roman „Die Kreuzritter“ des polnischen Nationaldichters Henryk Sienkiewicz und thematisiert die Zeit vor und nach der Schlacht bei Grünwald 1410. Eine für die polnische Geschichte bedeutende Zeit, was den relativen kommerziellen Erfolg des Titels in Polen erklärt. „Knights of the Cross“ wurde dann auch in Westeuropa vertrieben – mit nur geringem Erfolg. So erfrischend der Hintergrund abseits der bekannten Zivilisationsfeldzüge war – das Spielprinzip bot wenig neues.
Einen ähnlich zwiespältigen Eindruck hinterlässt das im vergangenen Jahr erschienene Spiel „Dragon Throne: Battle of the Red Cliffs“ des chinesischen Studios Object Software aus Peking. Der Hintergrund des Spiels – das dritte Jahrhundert nach Christus, als auf dem Gebiet der heutigen Volksrepublik drei Königreiche um die Macht rangen – war neu. Der Mechanismus des Spiels jedoch nicht.
Diese halbherzigen Zugeständnisse an westeuropäische und nordamerikanische Spieltraditionen haben wohl etwas mehr mit Absatzchancen als Ideenlosigkeit zu tun. Denn in China hat selbst das größte und linientreuste – mit Spielen über den Koreakrieg und Volksaufstände im Repertoire – Studio Kingsoft Absatzprobleme. Kingsoft rechnet mit nur einer Million Dollar Umsatz, der mit Spielen auf dem chinesischen Markt derzeit im Jahr erwirtschaftet wird. Es wird zwar mehr gespielt – nur sind das meist Raubkopien. Deshalb versuchen Studios wie Object Software Titel zu exportieren, leidlich erfolgreich wie bei „Fateof the Dragon”, das 2001 Eidos veröffentlichte.
Mit ähnlichen Problemen haben auch die meisten Entwickler aus Osteuropa und Lateinamerika auf ihren lokalen Märkte zu kämpfen. Allein auf diesen Absatz können sie nicht bauen. Deshalb produzieren viele osteuropäische Studios – bisweilen anspruchsvolle und durchaus untypische – Genretitel für den westlichen Markt. Zum Beispiel entwickelt die ukrainische Firma GSC „Stalker Oblivion Lost", einen klassischen Egoshooter, der aber auf dem verseuchten Gebiet um Tschernobyl spielt und starke Anleihen bei Tarkovskys Film „Stalker" von 1979 nimmt. In Osteuropa sind wegen der geringen Kosten viele Arbeiten mit eindeutiger Ausrichtung auf den westeuropäischen und nordamerikanischen Markt entstanden: der Taktik-Shooter „Vietcong" der tschechischen Firma Illusion Softworks, „Battle Isle 4" als Auftragsarbeit beim slowakischen Studio Cauldron oder „Imperium Glactica II" der ungarischen Entwickler Digital Reality.
Ein unbedarfter Spieler würde bei keinem dieser Titel sofort vermuten, dass er anderswo als in Westeuropa oder Nordamerika geschrieben wurde. Ein zweites „Tetris“ – das Spiel mit den fallenden Klötzchen eroberte aus Russland die ganze Welt – ist bislang nicht in Sicht. Die nationalen Märkte und die Eigenheiten müssen erst wachsen, bis so etwas auf dem heutigen Niveau der Spielentwicklung und der Entwicklungsbudgets möglich wird.
Dass es funkioniert, zeigen japanische Entwickler. Sie haben längst die restliche Welt für Musikspiele wie „Parappa the Rapper“ interessiert. Deutschland exportiert Aufbau-Strategiespiele wie „Anno 1503“ und die seltsame Begeisterung für Handelsschiffe, Gerbereien, Felle und dergleichen in die ganze Welt. Der internationale Spielverlag Electronic Arts hat die Faszination für Sport am Bildschirm auch außerhalb der Vereinigten Staaten geweckt. Dort sichern die jährlichen Neuauflagen der digitalen Versionen von Baseball, Basketball, Eishockey mit den Lizenzen der entsprechenden Profiligen Millioneneinnahmen – in Deutschland der „Fußball Manager 2003“.
Sind die einheimischen Spielmärkte in Osteuropa, China oder Lateinamerika einmal groß genug, um das Überleben der dortigen Studios zu sichern, könnten sie mittelfristig den internationalen Markt mit ähnlichen Besonderheiten bereichern. Und bis dahin werden auch einige Lizenzgenres lokaler werden. Der Verlag Codemasters hat für den Herbst eine Fußball-Simulation in 15 lokalen Versionen mit Vereinslizenzen von Bayern München bis Real Madrid angekündigt. Die Glokalisierung hat begonnen.