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Neuer Web-Dienst Google Wave: Google plant die Über-E-Mail (Spiegel Online, 28.5.2009)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

Neuer Web-Dienst Google Wave

Google plant die Über-E-Mail

Chatten, mailen, gemeinsam und gleichzeitig an einem Text schreiben – Google bastelt eine Software, die alles kann und kinderleicht zu bedienen ist. Google-Ingenieure versprechen: Damit könnte man sogar Wikipedia machen. Eine erste Demonstration zeigt: könnte klappen.

Spiegel Online, 28.5.2009

Programmierer Lars Rasmussen benutzt viele Worte an diesem Nachmittag, die schwer nach Übertreibung klingen. Und wenn man nicht mit eigenen Augen in einem Video sehen könnte, was er da zu beschreiben versucht, würde man es als Wortgeklingel abtun. Rasmussen präsentiert bei der alljährlichen Google-Entwicklerkonferenz I/O einen Nachfolger der E-Mail, oder zumindest eine Software, die Google dafür hält.

Hätte Rasmussen nicht Google Maps mitentwickelt, würde man sein Vorhaben als größenwahnsinnig abtun. Ausgangspunkt seines Programmierer-Teams: Das Konzept E-Mail ist fast ein halbes Jahrhundert alt. Ihr Ziel: “Eine neue Art der Kommunikation und Online-Zusammenarbeit”. Das soll nun also Google Wave sein, ein neuer Web-Dienst, den Google jetzt Entwicklern vorgestellt hat – und noch im Lauf des Jahres für die Öffentlichkeit freigeben will.

Was Wave kann, zeigt Google in einer 45-minütigen Videopräsentation, ausprobieren konnte man den Dienst am Donnerstag noch nicht. Bei allen Vorbehalten: Die Software sieht vielversprechend aus – eine Mischung aus E-Mail, Chatprogramm, Wiki, Blog und Fotoportal. Das klingt komplex, die Benutzer-Oberfläche wirkt jedoch intuitiv verständlich.

Mailen, Chatten, Bloggen – SPIEGEL ONLINE erklärt Schritt für Schritt, was Google für Wave verspricht.

E-Mail und Chatten – Jeder spricht mit jedem

Diese Anwendung leuchtet auf Anhieb ein: Eine Unterhaltung mehrerer E-Mail-Partner sieht in Wave ähnlich aus wie in Google Mail: Alle Nachrichten zu einem Thema werden gebündelt und als Dialog dargestellt. Eine E-Mail-Konversation heißt hier “Wave”. Es gibt aber einige wichtige Unterschiede zum klassischen E-Mail-System:

 

  • Man kann jederzeit einen neuen Gesprächspartner dazuholen, indem man den entsprechenden Nutzer mit einem Klick einlädt. Bei E-Mails müsste man ihm nun den kompletten E-Mail-Verkehr weiterleiten. Bei Wave sieht der neue Gesprächspartner alle bislang ausgetauschten Nachrichten – er kann sie sogar in einem kleinen Film abspielen, Nachricht für Nachricht, in der Reihenfolge, in der sie getippt wurden.
  • Klassische E-Mail-Konversationen sind linear: Wenn man sich auf eine Aussage bezieht, zitiert man sie zur Sicherheit noch einmal in der neuen E-Mail – in Wave klickt man an die entsprechende Textstelle und schreibt seinen Kommentar dazu, alle anderen Gesprächspartner sehen die Anmerkung sofort.
  • E-Mail ist wie Pingpong – wenn einer die Antwort tippt, müssen die anderen Gesprächpartner warten, was da für eine Reaktion kommt, ohne zu wissen, wann. In Wave kann man – wenn man will – seine Eingaben in Echtzeit für alle anderen Gesprächspartner sichtbar machen. Jeder Gesprächspartner in einer Wave-Unterhaltung sieht (wenn er online ist) sofort, was man an welcher Stelle im Dokument tippt.

Wenn Wave in diesem Jahr für die Öffentlichkeit freigegeben wird, werden zunächst nur Teilnehmer mit einer Google-Adresse per Wave diskutieren, Nachrichten empfangen und versenden können.

Instant Messaging – schneller, offener

Aber Google hat an diesem Donnerstag Entwickler aufgerufen, eigene Ergänzungen und Erweiterungen für das System zu programmieren. Google-Tüftler Lars Rasmussen beschreibt eine sehr naheliegende Erweiterung: “Ich importiere alle E-Mails von einem Account automatisch in Wave, wo sie als neue Wave auftauchen. Antworte ich in Wave, sendet die Erweiterung automatisch eine E-Mail an den ursprünglichen Adressaten.”

Man könnte Wave auch leicht als Chat-Programm benutzen: Da hier auf Wunsch die Eingaben aller Teilnehmer zu sehen sind, können alle gleichzeitig miteinander sprechen.

Die Frage, wie viele Debattenteilnehmer das Wave-System verkraftet, beantwortet Rasmussen so: “Technisch ist das kaum begrenzt. Das Problem ist eher die Übersichtlichkeit. Aus unserer Erfahrung im Arbeitsalltag würde ich sagen: 10 bis 15 können sich in einer Wave unterhalten oder gleichzeitig an einem Dokument arbeiten – wenn sie diszipliniert sind.”

Texte, Blogs, Tabellen – Publizieren nach Wiki-Prinzip

In einer Wave müssen nicht nur kurze Nachrichten stehen – man kann natürlich auch lange Texte schreiben und bearbeiten (die Änderungen jedes Autors werden protokolliert und können jederzeit rückgängig gemacht werden) und laut Google auch Textdokumente und Tabellen aus Googles Online-Office-Docs einbinden. Einbetten lassen sich auch Karten, Videos und Fotos.

Wie leicht das mit Digitalaufnahmen geht, führt Rasmussen in einer Videodemonstration vor: Mit nur drei Klicks hat er mehrere Fotos vom Windows-Desktop hochgeladen – Wave fertigt automatisch Thumbnails an, die zu einer kleinen Diashow in Wave führen.

Das erinnert sehr an ein einfaches Content-Management-System, wie es Blogs und Wikis zugrunde liegt. In der Tat will Google es erreichen, dass Nutzer eine ausgewählte Wave veröffentlichen und auf beliebigen Web-Seiten einbinden können. Konkret könnte man sich das so vorstellen: Man benutzt eine Wave als Mini-Blog, tippt ständig neue Kommentare ein und bindet diese Quelle bei Facebook, auf seiner Web-Seite und sonst wo ein – überall taucht derselbe, bei Wave aktualisierte Text auf.

Könnte man auch ein Mitmach-Lexikon wie Wikipedia mit Wave als Content-Management-System verwalten? Lars Rasmussen antwortet: “Im Prinzip sicher. Das könnten Entwickler mit einer Erweiterung ermöglichen. In solch einem Wiki wäre jeder Artikel eine Wave. Und die Anbieter könnten frei entscheiden, wer mitschreiben darf.”

Ein Google-Account wird nicht obligatorisch sein, um an solch einer Wave mitschreiben zu können. Denn Google will es Web-Seiten-Betreibern erlauben, die Wave-Software auf ihren eigenen Servern laufen zu lassen. Rasmussen: “Die Betreiber können selbst entscheiden, ob sie nur bei sich registrierte Nutzer kommentieren oder mitschreiben lassen oder auch anonyme Beiträge in einer Wave erlauben.”

Google öffnet sich

So viel Entscheidungsfreiheit ist neu bei Google. Wenn man der ersten Präsentation glaubt, ist Wave nicht nur ein weiterer, von Google exklusiv gehosteter Dienst, sondern ein offener Standard. Google verspricht Folgendes:

 

  • Die Wave-Plattform soll für Entwickler über offene Programmierschnittstellen (APIs) zum Einbinden in Programme und Dienste offen stehen.
  • Der Wave-Code soll wie bei Android und Chrome als Open Source Entwicklern zur Verfügung gestellt werden.

Google hofft auf eine Flut an Entwicklungen unabhängiger Dritter. Ein Beispiel in Rasmussens Präsentation: Über das Wave-Protokoll können Nutzer ein Online-Schachspiel in einer Wave einbinden – die Züge der Spieler sind in Echtzeit zu sehen, die Züge werden kontinuierlich protokolliert.

Lars Rasmussen verspricht: “Wenn ein Unternehmen das Wave-System im Intranet nutzen will, kann es das auf eigenen Servern, in Anbindung an die eigene Datenbank.” Jedermann soll eigene Wave-Server aufsetzen können – das ist ein deutlicher Unterschied zu Google Mail, wo auch zahlende Firmenkunden darauf angewiesen sind, die Nachrichten ihrer Mitarbeiter auf Google-Servern speichern zu lassen.

Das sind bislang nur Versprechen. Allerdings ist die von Google gezeigte Technik nicht ganz so weit weg – Anbieter von Online-Arbeitsumgebungen wie Zoho bieten seit Jahren Mitarbeitergruppen eine parallele Echtzeitbearbeitung von Dokumenten an, Wiki-Software läuft selbst bei extrem großen und rege bearbeiteten Datenbanken wie Wikipedia, und Chat-Programme kennt jeder. Google kombiniert diese Ansätze clever und macht daraus gleich eine offene Kommunikationsplattform.

Was der Web-Gigant sich davon verspricht, kann man nur vermuten: Der Dienst soll kostenlos sein. Wenn allerdings die Rechnung aufgeht und viele Seitenbetreiber Wave in ihre Angebote integrieren, wird Google noch enger mit dem Web verwoben sein und noch mehr Menschen Werbeangebote machen können. Wie es bei Wave mit Datenschutz, Spam und Datensicherheit aussieht, kann man derzeit nicht beurteilen.

Ob daraus ein Allerweltswerkzeug wie die E-Mail wird, auch nicht. Könnte Wave die E-Mail ersetzen? Rasmussen antwortet einfach: “Ja.”


Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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