Neues Dokumentformat CDF: Weg mit dem öden Papier-Internet! (SPIEGEL ONLINE, 21.7.2011)
Neues Dokumentformat Wolfram CDF
Weg mit dem öden Papier-Internet!
Wolfram Research probiert mal wieder den Aufstand: Die für Matheprogramme berühmte Sofwarefirma will ein neues Format für interaktive, digitale Dokumente etablieren. CDF soll Schluss machen mit dem Diktat des Statischen im Web.
Spiegel Online, 21.7.2011
{jumi [*3]}
Conrad Wolfram ist unzufrieden mit der Digitalisierung. Wissenschaftliche Aufsätze, Unternehmensberichte, Lehrbücher – all das ist heute in digitaler Form “flach, leblos, inaktiv”. Im Prinzip, klagt Wolfram, hat sich am Format all dieser Dokumente nichts geändert. Conrad Wolfram ist Mitgründer von Wolfram Research, er hat mit seinem Bruder Stephen die Software “Mathematica” zum Standardwerkzeug für Wissenschaftler und Mathematiker gemacht, eine Art universeller Computer-Werkzeugkasten für mathematische Modelle.
Und so hat Conrad Wolfram einen ganz eigenen Ansatz gefunden, den von ihm beklagten Missststand zu beheben: Wolfram Research stellt ein neues Dokumentformat vor: CDF, das Computable Document Format. Die Idee, grob vereinfacht: CDF-Dokumente sollen nicht nur vorgefertigte Interpretationen der Autoren darstellen, sondern dem Nutzer eigene Experimente mit den Modellen ermöglichen.
Konkret sieht das zum Beispiel so aus: In einem Rentenbescheid als CDF-Dokument sieht der Empfänger nicht nur, dass er mit 67 den Betrag X erhält, sofern die Annahmen stimmen, dass er bis dahin Betrag Y verdienen wird. Der CDF-Nutzer kann experimentieren, wie sich die Auszahlungen ändern, wenn er einmal weniger verdienen sollte, wenn er eher in Rente geht, wenn die Verzinsung niedriger oder höher ausfällt.
Natürlich gibt es schon viele Beispiele für mathematische Modelle, für die jemand interaktive Visualisierungen in einem CDF geschaffen hat. Oder, ein ganz klassisches Beispiel: Der Quartalsbericht einer Firma, in der die Werte in der Tabelle sich ändern, je nachdem, welche zwei Vergleichsquartale auf dem Zeitstrahl darüber man auswählt.
Ein neues Format gegen PDF, Flash, HTML5 und TeX?
Klar, so einen Quartalsbericht könnte man auch mit HTML5 oder Flash erstellen. Wenn man Conrad Wolfram zuhört, wenn er ins Schwärmen gerät, was man mit CDF alles machen könnte, hält man das Vorhaben erstmal für größenwahnsinnig: CDF – so scheint es zunächst – soll es mit PDFs, Flash, iPad-Apps, HTML5 und TeX aufnehmen. Mit so ziemlich allen Formaten also, in denen heute digital publiziert wird.
Man denkt da an das letzte große Wolfram-Projekt, dass außerhalb der Mathematica-Nutzerschaft für Aufsehen sorgte, die Wissens-Datenbank Wolfram Alpha . Entwickler Stephen Wolfram kündigte sie ganz unbescheiden als “neues Paradigma für den Gebrauch von Computern und des Web” an. Einige Zeit hypten Medien Wolfram Alpha als vermeintlichen Google-Killer, dann ging das Angebot Mitte 2009 online und gibt seitdem wunderschön aufbereitete Antworten auf einige Fragen. Googles Erfolg hat das nichts angehabt.
In Conrad Wolframs Präsentation zu CDF (in CDF!) findet sich ein ähnlich unbescheidener Vergleich: Eine Zeitachse zeigt, dass es seit 1970 Textverarbeitung, seit 1985 Desktop-Publishing und seit 1989 das Web gibt. Und dann kommt 2011 CDF.
Erst die Wissenschaft, dann vielleicht der Massenmarkt
Ganz so größenwahnsinnig ist das Projekt CDF dann doch nicht: Zunächst will die Firma wohl wissenschaftliche Verlage dafür gewinnen, bestimmt digitale Publikationen als CDF anzubieten. Für viele Physiker und Mathematiker, die ohnehin mit Mathematica arbeiten, wäre eine Exportmöglichkeit ihrer Modelle in dieses Format wohl eine attraktive Option. Für die Verlage vielleicht interessant: Es soll die Möglichkeit geben, neben freien, im Web abrufbaren CDFs auch kostenpflichtige Versionen zu vertreiben.
Zu Beginn muss man, um CDFs zu sehen, eine Wolfram-Software installieren – den CDF-Player (verfügbar für Linux, Windows, OSX). Damit kann man auch auf Webseiten eingebundene CDFs nutzen. In den nächsten Monaten will Wolfram Research eine Web-basierte Version von CDFs anbieten, die man ohne Zusatzsoftware über den Browser nutzen kann. Diese CDFs werden dann vom Wolfram-Server eingebunden, die Firma will Verlagen auch die Möglichkeit bieten, das CDF-Backend auf eigenen Servern laufen zu lassen (gegen Bezahlung natürlich).
Basis-Version der CDF-Schreibsoftware gratis im Web
Wie erfolgreich CDF wird, hängt aber vor allem davon ab, wie viele Menschen es zur Gestaltung interaktiver Dokumente nutzen werden. Allen CDF-Nutzern wird der Datenbestand von Wolfram Alpha als Rohstoff zur direkten Einbindung zur Verfügung stehen, zudem lassen sich über Schnittstellen Live-Daten in CDFs einspeisen.
In den kommenden Monaten will Wolfram Research ein Gratis-Webtool anbieten, mit dem sich CDFs erstellen lassen, die direkt auf dem Wolfram-Server laufen und die auf allen Websites eingebettet werden können, ähnlich wie YouTube-Videos. Conrad Wolfram verspricht, dass mit diesem Werkzeug jeder Laie interaktive Dokumente anlegen können wird. Er spricht von einer Revolution ähnlich wie beim Desktop Publishing: Mit CDF soll es einfach sein, Infografiken zu erstellen, für die man bislang Flash-Profis engagiert.
Man wird sehen.
Bei den Beispiel-CDFs, die Wolfram zur Vorstellung vorführte, stechen vor allem die wissenschaftlichen Arbeiten und die Lehrbücher heraus, in denen zwischen Fußnoten und Zwischenüberschriften im Print-Layout auf einmal interaktive Grafiken stehen, wie man sie so in dem Kontext noch nicht gesehen hat. Bei den Infografiken zu den Auswirkungen von Erdbeben, die Wolfram vorführt, drängt sich der Vorteil von CDF für Medien nicht auf: Das hat man so schon in HTML5 oder Flash gesehen.
“Wir müssen nicht so publizieren wie vor 300 Jahren”
Von diesen Details einmal abgesehen ist CDF ein elegantes Plädoyer für neue Präsentationsformen in Unterricht, Forschung und auch im Journalismus. Wie interessant Mathematik mit einem Lehrbuch voller interaktiver Modelle sein könnte! Wie viel erkenntnisreicher Präsentationen sein könnten, bei denen man die Grundannahmen von Prognosen verändern könnte.
Conrad Wolfram schimpft noch einmal auf die toten Dokumente: “Regierungen geben weltweit 500 Milliarden Dollar für Forschung aus und kriegen diese Dokumente als Ergebnis. Wir müssen das nicht so machen wie vor 300 Jahren.”
Ob allerdings Wolframs CDFs die statischen Aufsätze ablösen werden, ist eine andere Frage.