Neuheit auf E-Book-Markt: Doppelte Buchführung (Spiegel Online, 1.10.2010)
Neuheit auf E-Book-Markt
Doppelte Buchführung
Deutsche Verlage entdecken das E-Book gerade erst als Vertriebsweg. Der Autor Jürgen Neffe ist schon einen Schritt weiter: Er probiert aus, wie man Geschichten digital erzählen kann und hat kurzerhand das völlig neue E-Book-Format Libroid auf eigene Rechnung entwickelt.
Spiegel Online, 1.10.2010
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Jürgen Neffe hatte schon viele verrückte Ideen. Aus einigen sind Bestseller geworden, zum Beispiel aus Neffes Reise auf den Spuren Charles Darwins – sieben Monate fuhr der Autor und frühere SPIEGEL-Redakteur an die Orte, die Darwin mit seinem Segelschiff “Beagle” vor anderthalb Jahrhunderten ansteuerte, um das Geheimnis des Lebens zu entschlüsseln.
Nun hatte Neffe wieder so eine Idee: Er wollte ein E-Book so gestalten, dass man den Text ungestört lesen, aber zugleich all die Zusatzangebote (Fotos, Hintergrundinformationen, Videos, Anmerkungen, Audioclips, Quellenverweise) nutzen kann, die ein Tablet wie das iPad bietet. Neffe wollte ein E-Book gestalten, bei dem der Text und all die anderen Elemente nicht miteinander konkurrieren, sondern sich sinnvoll ergänzen.
Und weil es so etwas noch nicht gibt, hat Neffe ein solches Format auf eigene Rechnung entworfen und programmieren lassen. Libroid hat er es genannt – etwas buchähnliches, aber eben kein Digitalbuch mit Seiten, die man per Tastaturklick umblättert. Einen niedrigen sechsstelligen Betrag hat die Entwicklung gekostet, in zwei bis vier Wochen soll das erste Libroid als iPad-Anwendung erscheinen. Vorab hat Neffe das Libroid-Format nun erstmals öffentlich präsentiert. Bei allen Kinderkrankheiten zeigt diese Beta-Version sehr deutlich, dass hier jemand eine neue Idee umgesetzt hat – eine ziemlich gute Idee zudem.
Das Libroid-Konzept ist schnell beschrieben: Hält man das Tablet im Hochformat, sieht man nur Text. Kippt man es ins Querformat, ergänzen zwei schmale Spalten an den Seiten die dominierende Textspalte in der Mitte. Neffe hat zur Veranschaulichung sein Darwin-Buch als Libroid gestaltet: In der Spalte links sieht man Fotos, rechts eine Weltkarte mit dem aktuellen Standort, Verweise auf weiterführende Quellen und – sehr wichtig bei diesem Buch – Verknüpfungen zu den passenden Stellen in Darwins Reiseaufzeichnungen.
Kaum jemand sieht E-Books als Chance für neue Erzählformen
Einzigartig an dem Libroid-Format ist, dass die Spalten links und rechts mitlaufen, wenn man sich im Text bewegt – und umgekehrt. Man hat immer die Möglichkeit, weiterführende Informationen aufzurufen, die zu der Textstelle passen, die man gerade vor sich hat. Das klingt simpel, tatsächlich hat man eine so elegante Methode, verschiedene Erzählelemente zu verbinden, bislang noch nicht gesehen. Die Fotos, Originalpassagen und Verweise zu Hintergrundinformationen stören den Lesefluss nicht.
Anders als bei den in iPad-Anwendungen oft einfach irgendwo in Texten platzierten Zusatzelementen ist man nicht gezwungen, sich damit auseinanderzusetzten. Wer den Text eines Libroids liest – unterbrechungsfrei – sieht im Augenwinkel, dass neue Zusatzelemente links oder rechts einlaufen. Wenn man sich dafür interessiert, blickt man zur Seite, ruft die Extras vielleicht auf oder kehrt gleich zum Text zurück.
Hier tut ein Autor, was Autoren am besten können – er erzählt. Und weil man mit einem Medium wie dem iPad manche Geschichten – zum Beispiel die von Darwins Welt- und Ideenreise – nicht nur als Text erzählen kann, hat Neffe nebenbei eine neue Erzählform entwickelt.
Dass diese Idee nicht bei einem Verlag entstanden ist und dass ein Autor die Entwicklung auf eigene Rechnung umsetzt, sagt viel über den Zustand der Buchbranche aus. Inzwischen sprechen in der Branche zwar alle über das E-Book. Über die neuen gestalterischen Möglichkeiten redet derzeit kaum jemand.
Zur Buchmesse hat nun die Weltbild-Gruppe einen eigenen Billig-E-Reader angekündigt – das Aluratek Libre soll 99,99 Euro kosten. Damit will das Unternehmen die Digital-Lesegeräte vom Nischen- zum Massenprodukt machen. Gleichzeitig kündigt der Börsenverein des deutschen Buchhandels an, man werde die 31.000 beim Buchhandelsportal Libreka verfügbaren Kauf-E-Books ab sofort auch an Apples iBookstore liefern.
Verlage entdecken das E-Book langsam – als Vertriebsweg
Immerhin experimentieren einige deutsche Verlage nun – Jahre nachdem es die ersten brauchbaren Lesegeräte gab -, wie man das Netz als Vertriebsweg nutzen kann. Es wird Zeit. In diesem Juli waren in Deutschland von den 50 Titeln auf der SPIEGEL Belletristik-Bestsellerliste Hardcover gerade mal 26 als E-Book lieferbar. Bei Taschenbuch-Bestsellern waren es im selben Zeitraum 29 von 50 Titeln, so die Zahlen aus einer Studie der Unternehmensberatung PriceWaterhouseCoopers (PWC). In den Vereinigten Staaten waren schon Anfang 2008, zum Start des Lesegeräts Kindle, 102 von 112 Titeln der “New York Times”-Bestsellerliste für das Gerät verfügbar.
Die Folge dieses spärlichen Angebots: In Deutschland wurden bislang zwar mehrere zehntausend Lesegeräte (bis zu 80.000 schätzt PWC) und weit mehr als 100.000 iPads (Branchengerüchte – Apple kommentiert diese Zahlen nicht) verkauft. Doch Digitalbücher kauft kaum jemand. Zum Vergleich: Laut PWC haben US-Verlage mit E-Books im Jahr 2009 gut 550 Millionen US-Dollar umgesetzt – das sind etwa 3,3 Prozent des US-Umsatzes mit gedruckter Belletristik. In Deutschland war der E-Book-Marktanteil 2009 so gering, dass PWC ihn auf 0,5 Prozent schätzt – unter Vorbehalt. Bis 2015 soll der Anteil auf das US-Niveau des Jahres 2009 steigen.
Warum denn neue Formate entwickeln?
Entsprechend dürftig sehen die deutschen E-Books dann auch aus. Bislang sind alle diese Digitalbücher klägliche Imitationen des gedruckten Originals. Oft gibt es Seitenzahlen, selten irgendetwas, das über die Drucksimulation hinausgeht. Nun muss natürlich nicht jeder Roman und auch nicht jedes Sachbuch mit Fotos und Multimedia-Schnickschnack ergänzt werden. Aber manchmal bereichert es eine Geschichte, wenn man auch Originalquellen einblenden, mehrere Erzählperspektiven gleichzeitig verfolgen oder einfach Fotos aufrufen kann, das zeigt Neffes erste Libroid-Adaption seines Darwin-Buchs.
Wie fremd den Verlagen das neue Medium ist, zeigt die ältere E-Book-Umsetzung von Neffes Band: Ruft man im Apples iTunes Store den Eintrag zum Darwin-Band (9,49 Euro soll die App kosten) auf, sticht dieser Kundenkommentar ins Auge: “Sicherlich ein interessantes Buch, aber ich vermisse die 32 Seiten Fototeil (oder bin ich nur zu dumm zum Finden?)”. Offenbar hat der Verlag – oder sein Dienstleister – bei der ersten Umsetzung vergessen, Abbildungen der Printfassung eins zu eins ins Digitalbuch zu übertragen. Die wurden dann später mit einem Update nachgeliefert, schreibt ein anderer Kunde.
Zur Buchmesse haben zwei Verlage – Rowohlt (vier Bücher) und Lübbe (ein Band) – erste Versuche mit sogenannten Enhanced E-Books angekündigt. Diese Werke sollen zwei bis drei Euro mehr als die “normalen” E-Books kosten, dafür aber Zusatzmaterial enthalten. Beim historischen Roman “Sturz der Titanen” sind das ein Interview mit dem Autor Ken Follet, Landkarten, Stammbäume und Links zu Wikipedia. Ähnliches verspricht Rowohlt für sein digitalbuchplus.
Libroid-Idee – neue Erzählformen
Wie gut die Verlage diese alten Ideen umgesetzt haben, muss man erst mal sehen. Es fällt aber auf, dass die meisten Verlagsvertreter erweiterte E-Books offenbar als so eine Art Faksimile der Druckausgabe mit bunten und bewegten Extras sehen – ein paar Fotos, ein paar Videos, fertig ist das E-Book.
Neffe sieht das anders. Er glaubt an den Text und will die Möglichkeiten des Libroid-Formats für neue Erzählformen nutzen. Er spricht mit Autorin Katharina Hacker über eine Libroid-Version ihres Romans “Alix, Anton und die anderen” – der Text läuft in zwei Spalten. Treffen zwei Figuren einander, liest man links die Gedanken der einen, rechts die der anderen Figur. Es gibt erstaunlich viele Romane mit solchen Erzählexperimenten. In John Maxwell Coetzees “Tagebuch eines schlimmen Jahres” zum Beispiel folgt der Leser gleichzeitig drei Erzählebenen – alle parallel gedruckt. Im Libroid-Format wäre das erheblich schicker. Es profitieren also nicht nur Kochbücher (Videoanleitungen!), Ratgeber (Wissenstest!) und historische Romane (Landkarten!) von den Möglichkeiten des Digitalbuchs – man muss nur einmal länger nachdenken, nachdem einem das Naheliegendste schon eingefallen ist.
Die Hoffnung auf das Digital-Geschäft
Neffe hofft, die Entwicklungskosten mit dem Verkauf des Darwin-Buchs als iPad-App zu refinanzieren. 7,99 Euro wird die Anwendung kosten, auf Deutsch, Englisch, Spanisch und Italienisch wird sie erhältlich sein. Bei 25.000 verkauften Exemplaren würde Neffe Gewinn machen. Er hofft, dass Verlage in Zukunft die Libroid-Technik nutzen oder Autoren direkt mit ihm an Libroiden arbeiten. Eine Finanzierungsidee Neffes: Libroid entwickelt die Titel, behält im Gegenzug die Einnahmen bis auf 12,5 Prozent Beteiligung für die Autoren – ohne Vorschuss.
Wenn genug Geld reinkommt, will Neffe eine Android-Version der Libroid-Entwicklungsumgebung und eine Libroid-Autoren-Software nach dem Wysiwyg-Prinzip entwickeln.
Ein Hindernis hat ihm der deutsche Gesetzgeber aber in den Weg gelegt, das auch die E-Book-Hoffnungen der Verlage dämpft: Für gedruckte Bücher werden in Deutschland nur sieben Prozent Mehrwertsteuer fällig. Bei E-Books sind es 19 Prozent. Wenn die Verlage fixe Entwicklungskosten auf eine relativ kleine Anzahl verkaufter E-Books umlegen, aber zugleich vergleichsweise niedrige Preise festlegen wollen, schrumpfen die Margen daher automatisch. Die pessimistische Prognose der PWC-Berater: Solange E-Books nicht einen Marktanteil von mehr als 1,8 Prozent haben, bleiben sie bei den aktuellen am Taschenbuch orientierten Durchschnittspreisen ein Verlustgeschäft.
Neffe bewertet das nicht betriebswirtschaftlich: “Wir müssen dem Buch als entleibtem Datensatz möglichst viel seines Charakters und seiner Würde bewahren”, sagte er bei der Libroid-Präsentation. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass Neffe und nicht irgendein Verlag die Libroid-Entwicklung finanziert hat. Er sieht das Buch als Kulturgut, nicht allein sein bislang dominierendes Trägermedium Papier.