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Ohne Leitgedanken (Frankfurter Rundschau, 07.11.2002)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

Ohne Leitgedanken

US-Zwischenwahlen: Warum die Demokraten unterlagen

Frankfurter Rundschau, 07.11.2002

 

Eigentlich hätten nicht die Republikaner, sondern die Demokraten die amerikanische Zwischenwahl gewinnen sollen. Die Meinungsforscher hatten ihnen einen leichten Aufwärtstrend vorausgesagt. Nach den Erkenntnissen der Demographen wachsen traditionell demokratische Wählergruppen zur Zeit stark. Auch die Historiker sahen die Demokraten im Vorteil: Seit 1934 ist es keinem Präsidenten gelungen, bei der Zwischenwahl Sitze im Repräsentantenhaus hinzu zu gewinnen.

Allerdings zeigt die Geschichte auch etwas anderes: Gesellschaftlicher Wandel hat bisher immer dann zu einem politischen geführt, wenn es einer Partei gelang, mit einem Leitgedanken Veränderungen aufzugreifen und Wähler zu mobilisieren. Als die Republikaner 1896 zur Mehrheitspartei wurden, hatte William McKinley die industrielle Zukunft umarmt und – anders als die Demokraten – die Forderungen der Farmer als agrarische Vergangenheit hinter sich gelassen. So gewannen die Republikaner zu den Stimmen der Geschäftsleute im Nordosten und mittleren Westen auch die der Arbeiter im Norden. Ganz ähnlich nahm Franklin Roosevelt in den 30er Jahren sehr unterschiedliche Wählergruppen für sich ein. Weiße Südstaatler, die schon vor dem Bürgerkrieg die Demokraten gewählt hatten, vereinte Roosevelt mit Industriearbeitern, Schwarzen und Kleinfarmern zur Mehrheit unter dem Leitgedanken des New Deal, der aktiven Gestaltungsrolle des Staates.

Eine Bedingung für eine neue strukturelle Mehrheit der Demokraten wäre heute tatsächlich erfüllt: Die US-Gesellschaft verändert sich fundamental. Die Gruppe der qualifizierten Dienstleister wächst. Bereits heute vergeben Architekten, Lehrer und Ärzte bei Wahlen ein Fünftel aller Stimmen. Zudem lassen neue Siedlungsformen den traditionellen Gegensatz von Stadt und Land verschwinden. Im Umfeld großer Universitäten sind neue Vororte entstanden, wo sich High-Tech-Unternehmen, Konsumangebote und Wohnanlagen zu einem urbanen Umfeld vermischen. Hier leben und arbeiten viele hoch qualifizierte Dienstleister, hier dominieren liberale Wertvorstellungen. Die dritte demographische Entwicklung ist längst bekannt: Minderheiten werden zu Mehrheiten. So geben bereits heute in Texas und Kalifornien Hispanics fast ein Drittel der Stimmen ab.

Es muss also am fehlenden politischen Leitgedanken liegen, wenn die Demokraten trotzdem nicht gewinnen konnten. Gerade weil die US-Gesellschaft immer heterogener wird, wär ein überzeugendes Leitbild heute noch wichtiger als im vergangenen Jahrhundert gewesen. Heute müssen mehr gesellschaftliche Gruppen denn je hinter einer Partei und ihren Kandidaten vereinigt werden. Doch Ideen dafür fehlten im aktuellen Wahlkampf. Er war teuer, beliebig und stark personalisiert.

Exemplarisch dafür war die Kampagne des republikanischen Kandidaten Andrew Eristoff gegen seine demokratische Konkurrentin im New Yorker Regionalwahlkampf. Eristoff hielt ihr ihre Ablehnung eines Gesetzes gegen öffentliches Urinieren vor. Im Fernsehen waren Spots mit der einfachen Botschaft „Liz Krueger: Public Urination. You Decide“ zu sehen. Ähnlich inhaltsschwer war ein Spot der Demokaten in Montana gegen Senator Mike Taylor: Sie hatte einen alten Werbefilm ausgegraben, in dem Taylor auf einer Schönheitsfarm einem schnauzbärtigem Herrn eine Gesichtspflege verpasst. So lief es im Fernsehen und Taylor argwöhnte, man wolle Zweifel an seiner sexuellen Orientierung wecken.

George Bush flog der republikanische Leitgedanke dagegen wie schon im Jahr 2000 zu.Damals gewann er Simmen mit seiner Charakterstärke und seinem Wertkonservatismus. Dieses Image machte Bush bei einfachen Arbeitern, die Clintons Skandale satt waren, ebenso beliebt wie bei der christlichen Rechten. Im aktuellen Wahlkampf war es für Bush noch einfacher: Wieder war seine Person die zentrale Idee der Republikaner. Diesmal nicht wegen seiner Integrität, sondern weil er das Land im Krieg symbolisiert. Ob den Republikanern ohne Clinton und Krieg noch einmal der Spagat zwischen den verschiedenen Wählergruppen gelingt, ist fraglich – aber nach dem gestrigen Ergebnis zunächst irrelevant.

Bei den Demokraten war dagegen nichts Vergleichbares zu finden. Wie ein Leitgedanke bei ihnen hätte aussehen können, demonstrierte Al Gore im Jahr 2000. Sein Leitmotiv damals: "Big tobacco, big oil, the big polluters, the pharmaceutical companies": sie alle verhinderten Gesetze, die den Bürger mehr Lebensqualität bringen könnten. Deshalb müsse der Staat stärker regulieren. Gores Popularität stieg nach der Präsentation dieses Gedanken um 21 Prozent. Zwar gaben Clintons Skandale dann den Ausschlag, doch das Wählervertrauen in die Wirtschaftskompetenz der Demokraten steigt seitdem. In Krisenzeiten wünschen auch US-Wähler engere Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Bush hat diese Erwartungen mit Schlagworten wie "compassionate conservatism" oder "accountability" erfolgreich integriert.

Die Wahlkampfstrategen der Demokraten jedoch warnten vor zu scharfen Angriffen gegen Bushs geplante Steuersenkungen, von denen vor allem gut Verdienende profitieren. Auch die geplante Privatisierung des Risikos Altersarmut wollte man nicht allzu polarisierend angehen.

Weil den Demokraten die Leitidee fehlte, haben kurzfristig entschlossene Wechselwähler das Ergebnis der Zwischenwahl bestimmt, und zwar nicht aufgrund von bestimmten Weltanschauungen. Vielleicht spiegelt diese Entwicklung aber auch den wahren Zustand der sich sozial immer weiter ausdifferenzierenden amerikanischen Gesellschaft wieder. Vielleicht ist es nicht mehr möglich, überzeugende programmatische Leitmotive im System nur zweier großer Parteien zu entwickeln. Darauf wäre das knappe Ergebnis bei niedriger Wahlbeteiligung ein Hinweis.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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