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Online-Zockverbot: Karibikinsel fordert 3,4 Milliarden Dollar von USA (Spiegel Online, 20.12.2007)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

Online-Zockverbot

Karibikinsel fordert 3,4 Milliarden Dollar von USA

David gegen Goliath: Antigua steht nach einer Beschwerde gegen die USA Entschädigung zu. Denn das US-Verbot für Online-Glücksspiel auf ausländischen Websites verstößt gegen die Regeln der WTO. Als Ausgleich könnte die Welthandelsorganisation der Insel einen Raubkopie-Freibrief ausstellen.

Spiegel Online, 20.12.2007

Antigua ist halb so groß wie Hamburg und hat nur wenig mehr Einwohner als Lüdenscheid. Hier passiert so wenig, dass die "Antigua Sun" (Auflage: 2500 Exemplare) groß berichtet, wenn Spammer den Namen eines Modedesigners von der Insel benutzen. Bald dürfte es weit wichtigere Nachrichten geben. Höchstwahrscheinlich am Freitag entscheidet die Welthandelsorganisation (WTO), wie die Vereinigten Staaten Antigua im Rechtsstreit um Online-Glücksspiele entschädigen müssen. Dass Antigua eine Entschädigung zusteht, hat die WTO schon 2005 entschieden. Der Grund dafür ist, dass amerikanischen Staatsbürgern das Online-Glückspiel bei antiguanischen Web-Casinos verboten ist. Der winzige Inselstaat fordert darum von der Supermacht 3,4 Milliarden Dollar Entschädigung jährlich – 34-mal so viel wie das Bruttosozialprodukt Antiguas.

Experten bezweifeln, dass die WTO den Entschädigunganspruch Antiguas so hoch ansetzt. Sallie James, Expertin für Handelspolitik beim US-Think-Tank Cato Institute, sagte SPIEGEL ONLINE: "Die Situation ist derzeit undurchschaubar. Die festgelegte Schadensumme könnte zwischen einer halben Million und 3,4 Milliarden US-Dollar im Jahr liegen."

Wie Antiguas Chancen stehen? Da will sich nicht einmal Antiguas Anwalt Mark E. Mendell festlegen. Der Texaner mit den für einen Anwalt ein wenig zu langen blonden Haaren vertritt den Inselstaat seit fünf Jahren vor der WTO. "Wenn es schlecht für uns läuft, spricht die WTO uns eine bedeutungslose Summe zu. Im besten Fall rechne ich mit einer Milliarde Dollar im Jahr", sagt er. Mendell erzählt, dass die letzten Anhörungen vor der Entscheidung gut für Antigua gelaufen seien. Aber: "Die Vereinigten Staaten sind in diesem Fall sehr kriegerisch." Sie melden Verfahrensfehler an, zweifeln Antiguas Forderungen an.

Betreiber von Web-Kasino in US-Knast

Kriegerisch – das beschreibt den Kampf der Vereinigten Staaten gegen die ausländischen Online-Zock-Anbieter treffend. Verhaftungen, Beschlagnahmungen, neue Gesetze – so geht das schon seit Jahren. Antigua nahmen die US-Online-Glücksspielgegner zum ersten Mal 1997 ins Visier, weil hier Jay Cohen mit Partnern das Online-Wettbüro "World Sports Exchange" betrieb (siehe Kasten unten).

2,4 Milliarden Dollar Zock-Umsatz für Antigua

2002 begann Antigua als Reaktion auf den Cohen-Prozess mit Anwalt Mendell, den Fall für die Welthandelsorganisation vorzubereiten. Es könne nicht sein, dass die USA die Rechte auf freien Handel eines anderen WTO-Mitglieds einfach so missachteten. Finanziert hat das Verfahren laut der Nachrichtenagentur Bloomberg auch die antiguanische Online-Glücksspiel-Industrie.

Die Web-Kasinos und -Wettbüros der Insel sollen zu ihrer besten Zeit, im Jahr 2001, gut 2,4 Milliarden US-Dollar jährlich umgesetzt und zehn Prozent der Bevölkerung beschäftigt haben. Ob Jay Cohen am WTO-Verfahren beteiligt ist? Anwalt Mendell zu SPIEGEL ONLINE: "Er ist ein interessierter Beobachter. Viele Leute sind das."

Früh zeichnete sich ab, dass die Klage vor der WTO nicht ohne Aussichten sein würde: Bereits am 24. März 2004 entschied die WTO, dass das US-Online-Glücksspiel-Verbot gegen die Verträge über den freien Handel verstößt. Den Verlauf des Verfahrens dokumentiert die WTO-Seite zu dem Handelsstreit. Die Vereinigten Staaten fochten den Beschluss an. Die WTO entschied für Antigua. Bis Ende September hatten die Vereinigten Staaten Zeit, eine Entschädigung mit Antigua auszuhandeln. Doch nichts passierte.
Zwei Tage nach Ablauf der Frist zitierte das US-Magazin "Newsweek" den stellvertretenden US-Handelsbeauftragten John Veroneau mit der Aussage, es sei "aberwitzig" anzunehmen, die USA hätten mit der Unterzeichnung der WTO-Verträge Mitte der neunziger Jahre "absichtlich 40 Jahre unserer Rechtstradition gegen diese Art des Glücksspiels auf den Kopf gestellt". Sprecher des Büros des Handelsbeauftragten betonen öffentlich immer wieder, dass diese Art von Glücksspiel in den Vereinigten Staaten illegal ist, so zum Beispiel Sprecherin Gretchen Hamel in der "Financial Times" Ende März. Außerdem bezweifeln sie, dass die Vereinigten Staaten sich bei der Unterzeichnung von WTO-Verträgen überhaupt Verpflichtung in Bezug auf Online-Glücksspiele eingegangen sind.

Antigua fordert Raubkopier-Freibrief

Kein Einlenken also, keine Einigung mit den laut WTO Geschädigten. Jetzt muss die WTO den Antigua entstandenen Schaden beziffern und bestimmen, wie Antigua das Geld eintreiben darf. Bei solchen Verstößen kann die WTO einem geschädigten Mitglied Maßnahmen erlauben, die sonst streng verboten sind: Strafzölle zum Beispiel. Allerdings dürfte das den Vereinigten Staaten kaum weh tun: Gerade mal ein Fünftel der Importe Antiguas kommen von US-Firmen – der Wert dürfte bei gut 60 Millionen Dollar jährlich liegen.

Deshalb fordert Antigua ein anderes Instrument von der WTO: Einen Freibrief zum Raubkopieren von US-Filmen, -Musik und –Software. Sallie James vom Cato Institute bestätigt, dass dieses Instrument eingesetzt werden könnte. Im Klartext: Antigua könnte Raubkopierer gewähren lassen, ohne WTO-Sanktionen fürchten zu müssen.

Eine solche Genehmigung zum Rechtsbruch wäre bisher ohne Beispiel. Immerhin, berichtete ‘Newsweek" im September und das "Wall Street Journal" im August 2006, soll die WTO den Europäern im "Bananen-Krieg" zwischen der EU und Ecuador um Zölle auf Bananen und die Bevorzugung der sogenannten AKP-Staaten schon mit dieser Möglichkeit gedroht haben. Artikel 22 der WTO-Regeln zur Beilegung von Handelskonflikten erwähnt unter der Überschirft "Kompensation und Suspendierung von Konzession" auch das Urheberrecht. Die WTO wollte sich auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE vor der Entscheidung nicht dazu äußern.

Die Film-, Musik- und Softwareindustrie in den Vereinigten Staaten jedenfalls ist besorgt, Lobbyverbände nennen Antiguas Forderungen "lächerlich", verlangen aber vorsorglich "Vergeltungsmaßnahmen", sollte Antigua "kriminelles Verhalten" erlauben.

Brosamen-Entscheidung würde WTO schaden

Für wie wahrscheinlich er solch eine WTO-Entscheidung hält, will Antiguas Anwalt Mendell nicht sagen. Er gibt zu bedenken: "Die USA haben viel Einfluss in Genf."

Allerdings dürfte es dem Ansehen der WTO schaden, wenn sie den Zwerg Antigua mit Brosamen abspeist. Handelsexpertin James vom Cato Institute: "Staaten könnten das Vertrauen in die WTO verlieren, ein offenes, Regeln folgendes Welthandelssystem zu garantieren."

Gegen eine Brosamen-Entscheidung könnte Antigua nur noch mit einem Antrag an die WTO-Generalversammlung vorgehen, den Schlichterspruch zu kippen. Aber Mendell gibt sich verständig: Nach einer WTO-Entscheidung werde Antigua erstmal "an die US-Regierung appellieren, zur Besinnung zu kommen", erklärte Mendell. Man werde versuchen, "über eine faire Lösung zu verhandeln, bevor Antigua tatsächlich Maßnahmen gegen die USA ergreift".

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Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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