Pfadfinder auf dem Weg in eine neue Spielwelt (Neue Züricher Zeitung, 22.8.2003)
Pfadfinder auf dem Weg in eine neue Spielwelt
Künstliche Intelligenz muss in Computerspielen heute mehr leisten als nur gut zu kämpfen – Designer setzten sie immer mehr zur Inszenierung langfristig fesselnder Spielwelten ein.
Neue Züricher Zeitung, 22.8.2003
Die noch immer bekannteste spielende künstliche Intelligenz kostete 17 Millionen Dollar, wog 1,5 Tonnen und rechnete mit 200 Prozessoren am 12. Mai 1997 den Sieg über Schachweltmeister Garri Kasparow herbei. Kommerzielle Computerspiele hingegen brauchen keinen Grossrechner wie Deep Blue. Und doch messen sich heute täglich Millionen Menschen mit der künstlichen Intelligenz in ihnen– auf viel grösseren Spielfeldern als den 64 des Schachspiels.
In dem Ende des Monats erscheinenden Titel „Republic – The Revolution" führt der Spieler eine politische Bewegung in der fiktiven postsowjetischen Republik Novistrana. Die Software soll ein Spielumfeld berechnen, das sich gemäß dem individuellen Verhalten jedes Bewohners von Novistrana entwickelt. Die Einwohner reagieren basierend auf ihren individuellen Anschauungen und Erfahrungen auf die Handlungen des Spielers. Der leitende Programmierer dieser Künstlichen Intelligenz (KI) Alex Whittaker vom britischen Entwickler Elixir Studios bewertet die KI-Routinen in heutigen Spielen so: „Schach und andere traditionelle Spiele haben lange Zeit die Entwicklung bei Spiel-KI vorangetrieben. Doch diese Arbeit ist vor allem für klassische Strategietitel relevant. Doch der Fokus liegt meist nicht mehr so sehr auf verborgenen, streng rational entscheidenden Elementen. Im Gegenteil: Es kommt auf sichtbare, individuell handelnde Agenten an, mit denen der Spieler interagiert. Das ist ein wesentlicher Teil heutigen Gameplays." Künstliche Intelligenz in Spielen soll nicht den Menschen möglichst oft und möglichst schnell besiegen. Im Gegenteil: Die Programmroutinen sollen unterhalten. Und bei für das Erreichen dieses Ziels scheint künstliche Intelligenz beim Design von Spielen wichtiger zu werden. Vergleicht man die Ergebnisse der jährlichen – nichtrepräsentativen – Umfragen der Moderatoren von Fachgesprächen zur KI-Entwicklung bei der „Games Developer Conference“, steht den teilnehmenden Programmierern und Designern bei ihren Projekten von Jahr zu Jahr mehr Rechenzeit und Arbeitskraft zu Verfügung. Gute Gründe für wachsende Investitionen in KI-Entwicklung sieht Spieldesigner Paul Tozour, der beim Entwickler “Ion Storm” in Austin an der KI für „Thief 3“ und „Deus Ex 2“ arbeitete: „Heute hat fast jedes Studio einen eigenen KI-Entwickler. Der Grund für diesen Wandel ist einfach: Entwickler haben erkannt, dass die Spielgrafik in den kommenden 20 Jahren nicht mehr die Quantensprünge der vergangenen zwei Jahrzehnte machen kann. Wenn wir Spiele weiter verbessern wollen, müssen wir die Spielwelten mit tieferen, interessanteren und vielfältigeren Charakteren bevölkern.“
Tozour glaubt daher, dass die Qualität der KI in Zukunft einer der entscheidenden Faktoren für den Verkauf eines Spieltitels sein wird. Einige Bestseller der nahen Vergangenheit geben ihm da recht. Das Spiel „Black & White" zum Beispiel liebten 2001 Kritiker und Käufer gleichermaßen. Dabei war das zentrale Paradigma des Spiels sehr ungewohnt: Anstatt konkrete Missionsziele in möglichst kurzer Zeit zu erfüllen, verbringt der Spieler viel Zeit damit, eine künstliche Intelligenz – im Spiel grafisch durch eine so genannte Kreatur wie Affe oder Tiger repräsentiert – zu trainieren. Ähnlich zentral ist künstliche Intelligenz im Konzept von „Die Sims": Der Spieler weckt und befriedigt individuelle Bedürfnisse verschiedener Agenten. Dass diese relativ autonom vom Spiel gemäß ihren dringendsten Anliegen handeln, macht zum grossen Teil den Reiz des Spiels aus.
Gerade die Agenten in „Die Sims" führen leicht zu einem Missverständnis, das auch schon die akademische KI-Entwicklung diskreditiert hat. Es geht den Programmieren keinesfalls darum, im herkömmlichen also menschenähnlichen Sinne intelligente Software zu schaffen. Paul Tozour formuliert das Ziel des Entwicklers von Spiel-KIs so: „Gut ist eine Spiel-KI, wenn sie dem Spieler mehr Spass bringt. Das ist letzten Endes alles, worauf es ankommt." Das bedeutet, dass eine Spiel-KI immer intelligent wirken muss – aber es keinesfalls wirklich zu sein hat. Deshalb mogeln die KI-Gegner in Strategiespielen oft. Sie können zum Beispiel von Anfang an das gesamte Terrain überblicken, während der Spieler es erst mühsam erkunden muss. Solange er die unfairen Vorteile seines KI-Gegner nicht bemerkt, ist das für Designer kein Problem. KI-Programmierer Alex Whittaker von Elixir Studios ist deshalb nicht aus Prinzip gegen mogelnde KIs: „Spiele sind nicht technische Demonstrationen, sondern Unterhaltung. Allerdings haben wir festgestellt, dass es oft einfacher ist, das Mogeln zu vermeiden, weil dadurch das Ausbalancieren des Spiels sehr schwierig wird." Die Wirkung auf den Spieler ist entscheidend, die technische Umsetzung zweitrangig. Deshalb bestimmt vor allem die Perspektive der Spieler auf das Geschehen, welche KI-Methoden eingesetzt werden. In einem Actionspiel, das der Spieler aus der Egoperspektive wahrnimmt, müssen Gegner im rechten Augenblick erscheinen – zum Beispiel, wenn der Spieler eine Tür mit viel Radau geöffnet hat. In einem Strategiespiel, dessen Spielfeld der Spieler aus der Vogelperspektive betrachtet, müssen die einzelnen Einheiten sich auch kontinuierlich glaubwürdig fortbewegen. Wegen dieser vielfältigen Anforderungen existiert bislang keine umfassende Lösung für Spiel-KI, sondern lediglich ein grosser Haufen spezieller Lösungen für konkrete Teilprobleme.
Eine klassische Herausforderung ist das Finden von Wegen. Jeder Rollenspieler kennt diese Situation: Ein Monster steht fauchend und knurrend hinter einem Felsen, ganz nah am Spieler. Doch anstatt um das Gestein herumzulaufen, stösst es ständig dagegen – und knurrt weiter, bis der Spieler sich entfernt. Erst wenn sie so versagt, nehmen Spieler künstliche Intelligenz wahr. Doch tatsächlich haben KI-Programmierer bislang den grössten Teil ihrer Zeit für die Bewältigung solcher Aufgaben verbraucht. Derzeit wird meist ein klassischer, auch außerhalb von Spielen verwendeter Suchalgorithmus verwendet. In Zukunft könnten wichtige Impulse aus der Robotik kommen – die Navigationsprobleme von Software-Agenten in einer Spielwelt gleichen den von Robotern in einem realen Umfeld durchaus.
Eine andere klassische Aufgabe für Spiel-KIs sind überzeugende Gegner. Auch hier arbeiten Spiele heute mit eher klassischen als revolutionären Methoden: Die Entscheidungsbäume der einzelnen Agenten arbeiten meist Zustandsautomaten ab – keine überwältigend neue Technik. Doch der Einsatz von selbst lernenden Agenten, an denen die akademische KI-Forschung insbesondere mit neuronalen Netzen arbeitet, ist in Spielen riskant: Die Software könnte ja durchaus falschen Verhalten vom Spieler erlernen. Vor allem aber leben in den meisten Spielen die von der Software gesteuerten Gegner nicht lang genug, um individuelle Lösungswege zu erlernen.
Doch auch mit den klassischen Ansätzen lassen sich für Spieler verblüffende Ergebnisse erzielen: Das Spiel „Half-Life“ kombinierte verschiedene herkömmliche Methoden wie Zustandsautomaten mit über eine so genannte Skriptsprache im Voraus festgelegten Verhaltensweisen. Das Ergebnis: Gegner gehen in Deckung und werfen bisweilen entschärfte Granaten zum Spieler zurück. Verwundete Gegner flüchten, rufen Verstärkung und locken den Spieler gar in einen Hinterhalt.
In „Half-Life" modellierten die Designer mit der Skriptsprache das konkrete Verhalten der Agenten für bestimmte Situationen. Doch bei „Republic – The Revolution" arbeiten die Designer an den Verhaltensweisen selbst – unabhängig von konkreten Situationen. Alex Whittaker sieht es als wesentlichen Fortschritt, dass für die Gestaltung der KI nicht mehr die Programmierer verantwortlich sind: „Wir verwenden eine Software für das Verhaltensdesign, die es uns ermöglicht, Verhaltensweisen grafisch aufzubauen und sofort im konkreten Spielumfeld zu testen." In naher Zukunft werden solche Anwendungen von Spiel-KI abseits der Pfadfinderei und Kampfwut wachsen. „Republic – The Revolution" ist einer von mehreren aktuellen Titeln, die dem Spieler vor allem eine beeinflussbare Spielwelt bieten wollen. Gegen Ende des Jahres soll zum Beispiel das Rollenspiel „Fable" erscheinen, in dem der Spieler das Leben eines Charakters von der Jugend bis ins hohe Alter durchspielt. Die Spielcharaktere sollen sich noch nach Jahren gespielter Zeit an vergangene Ereignisse erinnern, Bewunderer die Frisur des Helden nachahmen, die Muskeln sich den tatsächlichen Bewegungen gemäß entwickeln. In „Die Sims 2" – erwartet für das kommende Frühjahr – werden die Agenten bestimmte individuelle Merkmale auf Nachkommen vererben.
Künstliche Intelligenz hat in Computerspielen zwar nicht vorrangig intelligent zu sein, sondern muss vor allem die angemessenen Kulissen und Darsteller für eine überzeugende Inszenierung liefern. Doch das allein wird zu einer immer beachtlicheren Aufgabe.