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Phrasen-Kritik: Das Internet ist kein rechtsfreier Raum (26.6.2009)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Phrasen-Kritik

Das Internet ist kein rechtsfreier Raum

“Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein!”, fordern deutsche Politiker und Lobbyisten seit Jahren. Web-Nutzer machen sich nun in Ketten-Postings über diese Phrase lustig. Tatsächlich verschleiert das Gerede vom rechtsfreien Raum die wahren Probleme.

Spiegel Online, 26.6.2009

Ein wenig holpert die Sprache manchmal, aber abgesehen von solchen Details schwappt gerade das wohl erste ebenso intelligente wie witzige Mem (Begriffserklärung im Kasten unten) durchs deutschsprachige Internet. Es klingt so: “Ein Karpfenteich darf kein hechtfreier Raum sein.” Oder so: “Eine schlagende Verbindung darf kein fechtfreier Raum sein.”

Sätze wie diese fluten gerade deutschsprachige Twitter-Accounts.

Was Formulierungen wie “Ein Theater darf kein Brecht-freier Raum sein” und “Ein Mischwald darf kein spechtfreier Raum sein” verbindet: Sie spotten intelligent und verschlüsselt über den seit Jahren wieder und wieder von Politikern und Lobbyisten wiederholten Appell: “Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein.”

Der Satz ist so ansteckend wie ein Mem, erheblich langlebiger als die meisten und hat nur einen wesentlichen Unterschied: Die Aussage über den rechtsfreien Raum Internet entwickelt sich nicht weiter.

Seit 1996 sagen Politiker und Lobbyisten ihn wieder und wieder, als würde die Aussage durch Wiederholung richtiger. Ein paar Beispiele:

  • Am 27. Juli 1996 schreibt Bundesforschungsminister Jürgen Rüttgers (CDU) in der “Frankfurter Rundschau”: “Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein.” Rüttgers erklärt gleich noch, das in seinem Ministerium vorbereitete Multimediagesetz werde genau das verhindern und fordert: “Netzbeschmutzern muss das Handwerk gelegt werden.”
  • Als würde das von Rüttgers so gelobte Multimediagesetz nicht längst gelten, fordert Bundeswirtschaftsminister Werner Müller drei Jahre später am 28. August 1999 in der “Welt” bei der Eröffnung der Funkausstellung in Berlin einen “verbindlichen Rechtsrahmen” für die “neuen Medien”. Denn: “Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein.”
  • Der “Welt am Sonntag” erklärte Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) am 10. Dezember 2006, warum der “Waffenhandel im Internet” durch “Cybercops schärfer überwacht” werden müsse. Beckstein sagte, “Online-Anbieter” könnten nicht gezwungen werden, “zuverlässig die Käuferidentitäten sowie die zum Kauf erforderlichen Lizenzen zu prüfen”. Da müsse man die “Zahl der Cybercops deutlich erhöhen”. Denn: “Das Internet darf kein rechtsfreier Raum werden.”

Die Liste ließe sich fortsetzen. Was all diese Aussagen implizieren, sprach im April Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, im Gespräch mit “Welt Online” einmal aus: “Das Internet ist zu einem völlig rechtsfreien Raum geworden, in dem zivil- und strafrechtliche Verstöße mehr oder weniger sanktionslos bleiben.”

Das stimmt nicht so ganz. Einerseits gelten online dieselben Gesetze wie offline, in der Eckkneipe oder auf der Autobahn. Andererseits gibt es im Web natürlich Rechtsverstöße, die nicht verfolgt werden. Buchhandels-Vertreter Skipis spricht vom rechtsfreien Netz, meint aber nur Urheberrechtsverstöße. Das stimmt: Obwohl Datensauger durchaus zu identifizieren sind, Tausende identifiziert werden und schmerzhafte Sankionen spüren, saugen Menschen weiter urheberrechtlich geschützte Inhalte im Web.

Wie hoch der Anteil dieser Gesetzesbrecher an den Webnutzern insgesamt ist, weiß niemand so genau. Aber: Es fahren auch sehr viele Menschen auf der Autobahn regelmäßig und ohne schlechtes Gewissen zu schnell, aber niemand käme auf die Idee, Straßen deshalb einen rechtsfreien Raum zu nennen. Der unglückliche Verlauf der Urheberrechtsdebatte zeigt, dass ein Diskurs über intelligente Netzregulierung nicht stattfindet.

Es gibt zwei lautstarke Fraktionen, die immer wieder dieselben Aussagen wiederholen und so eine Debatte verhindern: Auf der einen Seite beanspruchen Menschen in Online-Foren mit zurecht gelogenen Argumenten ein Recht auf Raubkopien für sich, auf der anderen Seite sprechen Politiker und Lobbyisten vom rechtsfreien Raum Internet. Es herrscht keineswegs an Mangel an gesetzlichen Regelungen, die auch oder gar nur für das Internet gelten. Nur sind die Gesetze von sehr unterschiedlicher Qualität, Richter legen die Regeln sehr unterschiedlich aus und die Behörden verfolgen Vergehen sehr unterschiedlich.

Deshalb ist das deutsche Mem vom hecht-, brecht- oder fechtfreien Raum so brillant: Die dahingetwitterten Sätze mit immer neuen Freierraum-Variationen sind komplett sinnlos – genauso wie das ganz seriös klingende Original.

Wie sehr der bei Politikern und Lobbyisten so beliebte Satz vom rechtsfreien Raum Internet das wahre Problem verschleiert, bringt der Düsseldorfer Anwalt Udo Vetter, Fachmann fürs Netz, auf den Punkt: “Wäre das Internet tatsächlich ein ‘rechtsfreier Raum’, würde ich als Strafverteidiger mindestens 35 Prozent weniger verdienen”, hat er getwittert.

Das eigentliche Problem im Web ist, dass es in Deutschland eine Menge spezieller Web-Regelungen gibt, dass natürlich dieselben Gesetze online wie offline gelten und dass die Gerichte noch immer dabei sind, in Entscheidungen auszuhandeln, wie man diese zum Teil schwammig bis schlampig formulierten Gesetze in konkreten Fällen auszulegen hat. Das alles ist noch komplizierter, weil Internetseiten in ganz Deutschland abrufbar sind und daher über viele Web-Streitigkeiten jedes Amts- und Landgericht entscheiden kann.

Bei welchen Online-Aktivitäten man in Deutschland juristischen Ärger riskiert, zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die IT-Recht-Rubrik bei SPIEGEL ONLINE: Wenn ein Webseiten-Betreiber (und das ist auch ein Vogelzüchter, der in seinem Papageien-Blog Kommentare zulässt) in Deutschland vorm falschen Gericht landet, haftet er für Schimpftiraden Unbekannter auf seiner Seite – egal, ob er sie übersehen oder sofort gelöscht hat. Veröffentlichung genügt.

Wer in den USA verdächtige Ed-Hardy-Markenklamotten ersteigert, kriegt statt der Ware womöglich eine Abmahnung und wer ” Das erotische Rowohlt Lesebuch” im Online-Antiquariat verkauft, sowieso. Wer in Deutschland eine Homepage betreibt, muss sich mit Impressums-Regeln herumschlagen, wer bei Ebay verkauft, sollte sich genau über Vorschriften zu AGB und Widerrufsbelehrungen informieren.

Wer da vom “rechtsfreien Raum” Internet spricht, ignoriert einige Entwicklungen und verschleiert, dass es gerade nicht darum geht, neue Regeln fürs Web zu definieren, sondern die bestehenden zu systematisieren, anzuwenden und eine neue Balance zwischen Grundrechten und staatlichen Eingriffsmöglichkeiten im Web zu finden.

Das zu erklären, ist natürlich etwas komplizierter als härtere Gesetze zu fordern.

Erstaunlicherweise hat 1996 – vielleicht waren die Fronten damals noch nicht so verhärtet – CDU-Forschungsminister Jürgen Rüttgers in der “Frankfurter Rundschau” versucht, als er über Maßnahmen gegen Kinderpornographie im Internet schrieb: “Auch gegen einen Anbieter, der in Deutschland über die Datennetze Kinderpornografie verbreitet, kann und muß die Justiz wie in jedem anderen Fall nach geltendem Strafrecht vorgehen.” Und, so Rüttgers damals: “Mißbrauchsbekämpfung bedeutet jedoch nicht die lückenlose Datenkontrolle im Internet.”


Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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