Piano-Performance auf Chatroulette Etwas Liebe im Menschenzoo (Spiegel Online, 24.3.2010)
Piano-Performance auf Chatroulette
Etwas Liebe im Menschenzoo
Wer Aufmerksamkeit im Netz will, muss schnell sein und es knallen lassen – Sex, Ekel, Schock, das ist das Erfolgsrezept bei der Videoplattform Chatroulette. Doch es geht auch ganz anders: Mit Klavier und Brille spielt sich ein Improvisationskünstler in die Herzen der Web-Nutzer.
Spiegel Online, 24.3.2010
Es ist so einfach, den Glauben an die Menschheit zu retten: Dazu braucht es gerade mal ein Klavier, einen talentierten Musiker und etwas Zeit auf der Videoplattform Chatroulette. Da treiben sich vor allem einsame Männer herum, die kaum Manieren und noch weniger Kleidung haben, denkt der Misanthrop. Und dann das: Ein Mann, der sich Merton nennt, sitzt mit Riesenbrille und Kapuzenpulli am Klavier und dichtet Verse auf seine wildfremden Videochatpartner.
Da liegt ein Typ gelangweilt im Unterhemd auf seinem Bett, starrt in seine Webcam und hört diese zum Klavier gesungenen Zeilen: “Entspannter Typ in weißem Unterhemd, sieht italienisch aus, so hatten seine Eltern das geplant.” Im englischen Original reimt es sich natürlich und passt wunderbar auf die improvisierten Klänge. Und schon lächelt der Typ im Unterhemd verzückt.
Mitte März hat Merton seinen Video-Zusammenschnitt der besten Auftritte vor Chatroulette-Publikum bei YouTube eingestellt, heute ist der Clip der am besten bewertete Beitrag aller Zeiten weltweit. Ohne Sex, ohne Schock, ohne Häme.
Der Clip ist das Ergebnis von zwei Nächten mit je drei Stunden Live-Improvisation, erzählt der auf Anonymität bedachten Merton im Videointerview mit dem US-Medienblog Mashable. Eigentlich, erzählt er, improvisiere er bei Auftritten nur am Klavier. Die Idee, etwas zu singen und auf Zuschauer einzugehen, kam ihm nach einem Abend Chatroulette mit ein paar Freunden. Wenn man nur ein paar Zuhörer hat statt eines großen Publikums, ist es möglich, auf die Menschen einzugehen.
Aufmerksamkeit als Geschenk
Und das ist das Schöne an diesen Klavierimprovisationen: Merton schenkt seinen Zuhörern Aufmerksamkeit. In dem extremen Wettbewerb um etwas Beachtung auf Chatroulette – man kann jederzeit mit einem Klick den nächsten, den womöglich interessanteren Chatpartner aufrufen – dichtet und singt er jedem seine ganz eigenen Zeilen, auch dem gelangweilten Typen im Unterhemd. Das ist witzig, aber nie auf Kosten der besungenen Chatpartner. Merton im Mashable-Interview: “Ich will mit Leuten interagieren. Ich will nicht nur kommentieren, wie sie aussehen. Ich will niemanden beleidigen.”
Das ist sehr menschlich, und vielleicht ist das der Grund für den Erfolg dieser Klavierstunde: etwas Liebe in einer Umgebung, die den Aufmerksamkeitskrieg auf die Spitze treibt. Weil bei Chatroulette jeder jeden jederzeit wegklicken oder auslachen kann, überbieten sich viele Teilnehmer der am einfachsten zu bedienenden Reize – Ekelvideos, nackte Haut, Beleidigungen. Im Wettkampf um eine Reaktion des Gegenübers, ein wenig Aufmerksamkeit muss es schnell gehen und knallen.
Oder man zahlt. Das zynische Geschäftsmodell des gestarteten Start-ups GameCrush demonstriert, wie wertvoll menschliche Aufmerksamkeit zu sein scheint: Die Firma will Computerspieler dafür bezahlen lassen, dass sie online bei diversen Flash-Spielen gegen gutaussehende Spielerinnen antreten, mit denen sie nebenbei chatten dürfen.
Es geht auch ohne Geld
Der Mann am Klavier demonstriert, wie das auch anders geht, und darum wird er wohl so geliebt. Bei einem Konzert der Musikers Ben Folds am vergangenen Wochenende wusste offenbar jeder im Saal, wer dieser Merton ist: Folds – der eine gewisse Ähnlichkeit mit Merton hat – spielt live eine Ode an den YouTube-Star: Vor seinem Klavier hat er ein Notebook aufgebaut, eine Webcam filmt ihn und das Publikum, die gut 2000 Besucher bekommen wiederum Folds Computerschirm und seine Chatroulette-Partner zu sehen, denen er im Merton-Stil am Klavier ein paar Zeilen singt.
Da blickte ein junger Herr mit Brille, der scheinbar gerade auf der Toilette sitzt, in seine Webcam und erblickt auf dem Monitor seines Laptops plötzlich einen Konzertsaal, hört ein zum Klavier gesungenes “Hey Mann auf der Toilette” von einem begnadeten Musiker und sieht viele erstaunte Gesichter im Hintergrund.
Seine Reaktion: “Ich liebe euch.”
Besser kann man das nicht zusammenfassen.