Pornographie bei Amnesty (telepolis, 25.12.2000)
Pornographie bei Amnesty
Wovor der vom US-Kongress verabschiedete „Children Internet Protection Act“ Kinder schützen soll, ist nicht geklärt. Recht sicher ist allerdings, dass er einige Bürgerrechte gefährdet.
telepolis, 25.12.2000
„Das ist das erste Mal seit dem Entstehen der örtlichen, kostenlosen Bibliotheken im 19. Jahrhundert, dass die Regierung versucht, Zensur in jeder Stadt Amerikas auszuüben.“ Greg Hansen, Anwalt der US-Bürgerrechtsorganisation „American Civil Liberties Union“ (ACLU), meint das sehr ernst. Am 15. Dezember verabschiedete der US-Kongress ein Gesetz über Ausgaben von 4,5 Milliarden Dollar für die Computerausstattung von Bibliotheken und Schulen. Teil dieses Pakets ist auch der sogenannte „Children Internet Protection Act", der Institutionen vom föderalen Geldregen ausschließt, wenn sie nicht Filterprogramme auf ihren Computern installieren.
Gefiltert werden sollen Inhalte, die „anstößig“, bei Rechnern die von Personen unter 17 Jahren benutzt werden auch solche, die „schädlich für Minderjährige“ sind. Diese Begriffe sollen von Schulen und Gemeinden näher definiert werden. Dem von den Republikanern propagierten Gesetzesvorschlag wird Präsident Bill Clinton am Jahresanfang wohl zustimmen, da er ansonsten Veto gegen das gesamte 415 Milliarden Dollar Gesetz einlegen muss. Nachdem der Präsident das Gesetz angesegnet hat, müssen Schulen und Bibliotheken binnen 120 Tagen ihre Filterprogramme präsentieren.
Dagegen protestieren bisher allein Bürgerrechtsgruppen wie die ACLU oder das „Electronic Privacy Information Center“ (EPIC). EPIC hat angekündigt, juristisch bis zum Verfassungsgerichtshof gegen das Gesetz vorzugehen. So wurden die vergleichbaren Vorgängergesetze „Communications Decency Act“ und „Children Online Protection Act“ für verfassungswidrig erklärt. Vor zwei Jahren lehnte ein Richter in Loundoun County, Virginia, den Plan, Filtersoftware in der örtlichen öffentlichen Bibliothek zu installieren, als Verstoß gegen die Meinungsfreiheit ab.
Eine andere Organisation – Peacefire – hat jetzt als Reaktion auf das Gesetz auf ihrer Internetseite ein kostenloses Programm veröffentlicht, mit dem die sieben führenden Filterprogramme deaktiviert werden können. Voraussetzung: Sie sind unter Windows 98 und auf dem Einzelplatzrechner installiert. Filter, die auf einem Netzwerk-Server laufen, sollen mit der nächsten Programmgeneration angegangen werden. Ihr Vorgehen begründet die Gruppe in einer Erklärung so: „Für einige Leute wird die s der einzige Weg sein, an Informationen über AIDS und Empfängnisverhütung zu kommen. Für jeden anderen ist es eine prinzipielle Angelegenheit: Dank auch unter 18 für dich selbst.“
Der Hinweis auf AIDS hat den Hintergrund, dass die Filter meist mehr blockieren als nur Anstößiges. Im Oktober veröffentlichte Peacefire eine Studie über die Fehlerquoten von Filterprogrammen. Ergebnis: 20 bis 80 Prozent der gesperrten Seiten enthalten nichts anstößiges. Test von Online-Computerdiensten wie ZDnet bestätigten Peacefire.
Deshalb haben die Gegner des Zwangsfilter- Gesetzes sogar einen republikanischen Unterstützer. Kongress-Kandidat Jeffrey Pollock fand seine Wahlkampfseite von den Filtern Cyber Patrol und Bess blockiert. Warum? „Als nationaler Kandidat muss ich Themen wie Abtreibung, Vergewaltigung, Inzest und das Leben der Mutter aufgreifen.“ Was wohl zu entsprechenden „anstößigen“ Stichworten führte. Pollock spricht sich heute wegen dieser technischen Unzulänglichkeiten gegen Filtertechnik aus.
Eine Untersuchung von NetElection.org und Peacefire zu den Wahlen ergab, das Cyber Patrol und Bess 36 Kandidatenseiten blockierten. Schlimmer noch: Regelmäßig blockiert werden auch die Seiten von Amnesty International. Einer anderen Studie von Peacefire zufolge, vermutet die Software Cybersitter auf einer Amnesty International Nachrichtenseite pornographische Inhalte. Der Studie zufolge liegt dies am Ausdruck "mindestens 21." Dies ist bei Amnesty International allerdings nicht auf das Alter der Leser bezogen. Auf der Seite steht: „(…) mindestens 21 Personen wurden in Indonesien und Osttimor getötet oder verwundet.“ Das dieser Fehler kein Einzelfall ist, kann man jeden Tag bei Peacefire sehen. Täglich veröffentlicht die Organisation die irrtümlich blockierte Seite des Tages.
Aber es sprechen nicht nur technische Unzulänglichkeiten gegen das Zwangsfilter- Gesetz. Immerhin wird hier verlangt, dass auch Erwachsene in Bibliotheken nicht alles sehen und lesen können, was sie laut dem ersten Verfassungszusatz über die Meinungsfreiheit dürfen. In den USA ist es auch erlaubt, öffentlich über ein schwarzes Dummheitsgen zu schreiben. Das Filtern von „Anstößigem“ und auch von Pornographie ist da ein klarer Verstoß gegen die Verfassung, findet ACLU- Anwältin Ann Beeson.
Ein drittes übel des Gesetzes ist die Annahme längst überholter Medienwirkungstheorien. In der Kommunikationswissenschaft hat man sich schon vor Jahrzehnten von der Stimulus-Response Theorie verabschiedet, die besagt, derselbe Inhalt habe bei jedem Rezipienten dieselbe Wirkung. In einem US-Prozess über Gewalt in Computerspielen äußerten acht Soziologen: „Kunst, Unterhaltung und andere Aspekte unserer Kultur beeinflussen Individuen auf sehr unterschiedliche Art, abhängig von ihrem Charakter, ihrer Intelligenz, ihrer Jugend. Wenige bestimmte Jugendliche kann ein bestimmter Filme, eine bestimmte Fernsehsendung oder ein bestimmtes Computerspiel zur Nachahmung verleiten, aber für die meisten kann es entspannend, kathartisch oder einfach unterhaltsam sein.“
Mit anderen Worten: Wie Inhalte wirken, hängt nicht von ihren, sondern vielleicht sogar zum größeren Teil von den Eigenschaften ihrer Rezipienten ab. Den Selbstmord des Helden von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ haben auch zahlreiche Jugendliche nachgeahmt – das Buch aber wird heute noch in der Schule gelesen, weil sich die meisten Leser eben nicht umbringen. Wie Pornographie auf Bibliothekenbenutzer wirkt, ist somit kein Argument für Filter – weil man es einfach nicht weiß. Und die Gefahr, dass Jugendliche im Netz von bösen Pornographen mit Fotos bedrängt werden, ist weit geringer als von Republikanern dargestellt. Denn wer Pornoseiten betreibt, will meist Kunden mit Kreditkarten haben. Es ist wahrscheinlicher, dass Jugendliche aus Interesse nach kostenlosen Angeboten suchen.
Der „Children Internet Protection Act“ hingegen gibt vor, allgemein definieren zu können, was für Erwachsene und Jugendliche schädlich ist. Dass die genaue Definition von Schädlichkeit und Anstößigkeit den Bibliotheken und Gemeinden überlassen wird, macht das Gesetz nicht besser. Nika Herford, Sprecherin der Filter-Herstellers Net Nanny sieht Probleme auf die Firma zukommen, die Software an die unterschiedlichen Ansprüche etwa des tiefreligiösen Bible Belts und Kaliforniens anzupassen. Auch wenn das gelingt: Was ist mit den Rechten eines Kaliforniers, der in einer Bibliothek im Bible Belt surft? Eigentlich ist das Internet das perfekte Medium, um dieses Problem zu lösen: Der Kalifornier entscheidet selbst. Und dadurch zwingt er seinen Sitznachbarn keineswegs zum Betrachten von Pornographie, da im Netz jeder selbst entscheidet, was er sehen will. Der „Children Internet Protection Act“ ändert dies unter dem irreführenden Label Kinderschutz.
Das vierte Argument gegen die Zwangsfilterung betrifft die enorme Macht, die das Gesetz Privatfirmen verleiht. Denn tatsächlich bestimmen letztlich die Hersteller der Filter-Software, welche Internetseiten man sehen darf und welche nicht. „Wir müssen uns fragen, was die Absichten dieser Unternehmen hinsichtlich unserer Kinder sind, ob ihre Aktivität tatsächlich allein der Verbesserung des Lernumfelds dienen“, fragte eine Wissenschaftlerin im International Herald Tribune. Der Hersteller des Filters Bess N2H2 etwa verdient mit Zwangswerbung auf den Bildschirmen der Rechner, auf denen das Programm läuft. Zum Ende des aktuellen Schuljahr soll dies eingestellt werden – allerdings ohne eine Wiederaufnahme auszuschließen. Außerdem arbeitet N2H2 mit den Markforschern von Roper Starch bei der Erfassung und Analyse der Internetnutzung der Schüler und Stundenten zusammen. Das Unternehmen sieht darin kein Problem – schließlich würden die Daten anonym gesammelt.
Einen Vorteil mögen Zwangsfilter in Schulen haben: Die Jugendlichen lernen den kreativen Umgang mit Computern. Der Bundesstaat Washington empörte sich vor kurzem über einen 15jährigen, der das Filtersystem seiner High School geknackt hatte.