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Prognose-Börsen: Internet-Orakel sieht Hollywoods Blockbuster voraus (Spiegel Online, 11.6.2007)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Prognose-Börsen:

Internet-Orakel sieht Hollywoods Blockbuster voraus

In virtuellen Börsen wetten Web-Nutzer auf den Erfolg von Filmen, Romanen und Computerspielen. Immer mehr Unternehmen nutzen diese Prognosen, die Branche boomt. Zurecht, denn Wissenschaftler bestätigen: Niemand sagt Erfolg in Hollywood so gut voraus wie die Börsen-Spieler im Internet.

Spiegel Online, 11.6.2007


Johnny Depp hält er für einen wunderbaren Schauspieler. Diese Vielseitigkeit, dieser Ausdruck – Bill Johnson bewundert den Star. Der 32-jährige Bauunternehmer aus Michigan ist ein Depp-Fan, aber auch ein Händler an der Prognose-Börse Hollywood Stock Exchange (HSX). Und beim Geld, hört die Bewunderung auf. Johnson würde nie auf Depps Zukunft wetten, er hatte noch nie eine Depp-Aktie im Depot. Sein Urteil: Es gibt verlässlichere Geldbringer, bei Depp sind Kassenschlager nur Ausreißer.

Ums Geld dreht sich alles bei der HSX: Die Mitspieler kaufen mit Spielgeld (dem Hollywood-Dollar) Aktien von Filmen, die noch nicht im Kino gestartet sind. Der Aktienpreis soll den Kassenerfolg eines Filmes widerspiegeln. Sprich: Wer 200 Hollywood-Dollar für einen Anteil ausgibt, erwartet, dass der Film in den ersten vier Wochen nach US-Filmstart mehr als 200 Millionen Dollar einspielen wird. Einen Monat nach dem Kinostart wird die Aktie vom Markt genommen, Besitzer erhalten als neues Spielgeld den Aktien-Gegenwert der realen Umsatzzahlen gutgeschrieben. Sprich: Spielt der Film 200 Millionen Dollar ein, gibt es 200 Hollywood-Dollar Spielgeld je Aktie.

Immer neue Prognose-Börsen

Seit 1996 ist die HSX online, inzwischen spielen mehr als 600.000 Händler mit, knapp 50.000 Transaktionen wickelt die Börse am Tag ab. Ihre Prognosen sind so gut, dass jetzt andere Firmen neue Prognosebörsen für Romane (Mediapredict.com) und Computerspiele (thesimexchange.com) starten.

In den vergangenen drei Jahren haben die Kurse an der HSX die Oscar-Gewinner in den acht wichtigsten Kategorien fast perfekt vorhergesagt (nur acht Prozent Fehlerquote). Die Güte der Einspielergebnis-Prognosen an der HSX hat Martin Spann, Wirtschaftsprofessor an der Universität Passau, untersucht. Sein Ergebnis nach Auswertung von 152 Filmen: "Die Voraussagen waren sehr gut." Konkret: Sie waren doppelt so gut wie die Experten-Prognosen im US-Fachmagazin "Box Office Report". Ein Beispiel: Im April 2006 sagte die HSX voraus, dass "The Da Vinci Code" binnen vier Wochen 207 Millionen Dollar einspielen wird. Tatsächlich waren es Ende Juni 205,5 Millionen Dollar.

Zuverlässiger als Experten

Prognose-Börsen sind verfeinerte Experten-Prognosen: Richtige und falsche Aussagen stehen nicht statisch und gleichberechtigt nebeneinander. Wenn gut informierte Händler mit schlecht informierten handeln, können sie ihr Insider-Wissen nutzen. Die echten Experten haben größere Gewinnchancen. Und indem sie ihre Chance nutzen, korrigieren sie die Preise. So fasst die Börse verstreute Informationen zusammen. Das Ergebnis laut Professor Spann: "Der Markt gewichtet die Expertenmeinungen und lockt durch Anreize neues Wissen an."

Solche Anreize müssen gar nicht finanziell sein. Prognosebörsen mit echtem Geldeinsatz sind in den Vereinigten Staaten nicht zu finden – sie würden als Glücksspiel gelten. Aber der öffentliche Erfolg ist Anreiz genug für Händler wie Bill Johnson. Der ist stolz auf seinen Platz auf der Rangliste: Mit seinem privaten Depot ist er derzeit auf Platz 662 der erfolgreichsten HSX-Händler. Außerdem managt er einen HSX-Fonds, der Geld anderer Händler in Computerspiel-Verfilmungen investiert. Der Erfolg in diesem Jahr: 13,87 Prozent Gewinn. Dass diese Zahl öffentlich auf der HSX-Börse neben seinem Händlernamen steht, ist für Bill Johnson Motivation genug, in seiner Freizeit auf Nachrichtenseiten und in Webforen zum Filmgeschäft zu stöbern.

Gute Prognosen bei Wahlen, Sport, Filmen

Es gibt viele andere Erfolgs-Beispiele. Justin Wolfers, Wirtschaftswissenschaftler an der University of Pennsylvania, der seit Jahren Internet-Prognosebörsen erforscht, fasst seine Ergebnisse gegenüber SPIEGEL ONLINE so zusammen: "Solche Prognose-Märkte bringen in der Regel bessere Prognosen als Experten hervor, wenn es um Wahlprognosen, Sportereignisse oder Vorhersagen zur Wirtschaftsentwicklung geht."

Für Themen aber, zu denen es kaum brauchbare, für Händler zugängliche Informationen gibt, sind Prognose-Börsen unbrauchbar. Deshalb ist der Versuch einer Prognose der Wahrscheinlichkeit, Massenvernichtungswaffen im Irak zu finden, auf InTrade.com gescheitert: Die Händler hielten für wahrscheinlich, was die meisten öffentlichen Quellen als wahrscheinlich erklärten. Bis dann das Gegenteil eintrat.

Ein anderes Beispiel: Bei der US-Senatswahl im vorigen Jahr lag die renommierte Prognose-Börse Iowa Electronic Market zum Beispiel falsch, sah nicht voraus, dass die Demokraten die Wahl gewinnen. Das ist aber kein Beweis der Unzuverlässigkeit von Prognose-Börsen, erklärt Wirtschaftswissenschaftler Wolfers: "Es geht um Wahrscheinlichkeiten, nicht um perfekte Prophezeiungen."

Wenn ein Markt eine 70-prozentige Wahrscheinlichkeit sieht, kann es eben mit geringer Wahrscheinlichkeit auch anders ausgehen. Die Güte solcher Vorhersagen müsse man an den Fehlerraten alternativer Prognosen messen. Und die sind bei Prognose-Börsen durchweg besser, wenn es um Filme, Wahlen und derlei geht.

Neues Konzept: Ideenbörsen

Diesen Effekt wollen neue Prognosebörsen für andere Branchen nutzen: Vor drei Wochen ist der US-Anbieter Mediapredict.com gestartet. Hier sollen Spieler den Erfolg von Filmen, Büchern, Musikalben und Fernsehserien einschätzen. Das Prinzip ist ähnlich wie bei HSX: der Wert einer Aktie bezieht sich auf bestimmte Umsatzzahlen, Einschaltquoten, aber auch auf Wahrscheinlichkeiten, dass ein bestimmtes Ereignis eintritt. So sollen Mediapredict-Händler vorhersagen, ob Exposés für Bücher von einem Verlag angenommen werden. Bei diesem Projekt kooperiert Mediapredict mit dem US-Verlagshaus Simon & Schuster.

Das Verfahren: Autoren schicken ihre Exposés an Literaturagenten. Sie entscheiden, was bei Mediapredict eingestellt wird, dann beginnt der Handel. Steht die Aktie eines Exposés bei 38 Prozent, erwarten die Händler, dass es mit nur 38-prozentiger Wahrscheinlichkeit von Simon & Schuster angenommen wird. Der Verlag sucht sich im Oktober unter den 50 teuersten Aktien ein Exposé aus, das er als Buch veröffentlichen will. Verleger Mark Gompertz schwärmt in einer Pressemitteilung: "Das ist die ultimative, markt-basierte Fokusgruppe."

Konzerne erproben interne Börsen

Mit solchen Ideenbörsen experimentieren auch große Unternehmen. Sie lassen in geschlossenen Börsen ausgewählte Mitarbeiter mit den Prognosen von Absatzzahlen, Projektlaufzeiten oder den Erfolgschancen neuer Produkte handeln – zum Beispiel Google, HP und T-Mobile. Angesichts dieses Interesses sagen Experten wie Spann und Wolfers den neuen Prognose-Börsen gute Chancen voraus.

Sie müssen nur genug neue Händler anlocken. Hollywood-Exchange-Profi Bill Johnson kommt neben seinem Job und dem Prognose-Hobby selten dazu, überhaupt komplette Filme zu sehen. Ab und an gönnt er sich einen, auf DVD oder im Kino: "so etwa alle ein, zwei Wochen."

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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