Programmierte Pannen (taz-Ruhr, 21.01.1999)
Programmierte Pannen
Atomkonsensgespräche in Bonn? Kernschmelze in Essen!
taz-Ruhr, 21.01.1999
Am Bonner Rhein brüteten am Dienstag Trittin, Schröder, Müller und ein halbes Dutzend Atombosse bei den Konsensgesprächen über Wiederaufbereitung, Endlagerung und den finalen Ausstiegstermin aus der Kernkraft. Derweil hat man am Essener Deilbach ganz andere Probleme: 14 Atommeiler stehen hier, ständig brechen Heizrohre, bleiben Regelventile offen, versagen Frischdampfablasser. GAU und Kernschmelze gibt's aber nur im Rechner, wenn deutsche Kraftwerkler im AKW- Simulator das Stromerzeugen lernen. Wie lange noch? Über Arbeitslosigkeit machen sich die AKWler jedenfalls keine Sorgen.
Braun ragen die Baumkronen auf den Hängen des Deilbachtals in den trüben Himmel. Unten am rauschenden Deilbach ragen silbrig glänzend die Steuerstäbe eines Siedewasserreaktors empor. Eigentlich sollten sie im Reaktorkern des österreichischen Meilers Tulnafeld für die geordnete Kettenreaktion sorgen – doch der wurde nie gebaut. Im AKW Würgassen brauchte man sie nach dessen Abschaltung 1995 auch nicht mehr, also wurden sie kurzerhand der Kraftwerks Simulator Gesellschaft (KSG) geschenkt. Nun stehen die Stäbe in Essen – als Brunnen.
Weit weniger schadlos fristen andere Steuerstäbe ihr Dasein. Vierzehn Atommeiler sind in Deutschland am Netz. Statt Kernschmelze sollen sie Strom produzieren. Wie das geht, lernen pro Jahr 1500 Kraftwerkler an den Simulatoren der KSG. Auf sechs Etagen und 12.000 m² sind die 14 deutschen AKW- Warten nachgebaut.
1977 begann das Lernen am Modell – mit einem Biblis Nachbau. Die Simulations-Computer von damals brummen heute noch auf der Fläche eines Reisebusses vor sich hin. Kühlschrankhoch und ungleich lauter tun sie ihren Dienst. Hier und da blinkt ein Lämpchen hinter der Glasabdeckung, ganz im Raumschiff Orion- Stil. 30 Millionen Mark kosten Soft- und Hardware für eine Anlage. Die Kraftwerksbetreiber zahlen. Zwei Millionen berappen sie jährlich für die Schulungen pro Meiler-Modell und Anpassungen. Jede Rohrneuverlegung muß neu programmiert werden, damit das Modell originalgetreu reagiert.
In Essen geht`s meistens um Störfälle. Neben ihrer dreijährigen Grundausbildung absolvieren die Schichtleiter, Reaktor-, Turbinen- und Leitstandsfahrer auch ihre jährliche Fortbildung am Modell. Allerlei fiese Fehler hecken die Ausbilder für die fünfköpfigen Schichtteams aus. In der dunklen Warte des AKW Neckarwestheim versucht sich Ausbilder Hans-Michael Dürr an einem "Fehloffenbleiben eines Frischdampfablaß- und Regelventils während einer Prüfung", wie er es ausdrückt. In dunkelvioletter Strickjacke und ausgewaschener, beiger Jeans steht er am Leitstand, gebeugt über unzählige Knöpfe, Schieberegler und Leuchtdioden. 25.000 Input/ Output Signale verteilen sich auf etwa 10.000 Schalter. Grün, rot, orange blinkt er in der Dunkelheit des Raumes. "So ist es viel angenehmer", erklärt Dürr, schaltet dann aber doch das Licht an.
Seine Arbeit vergleicht der Kraftwerkslehrer mit der eines Drehbuchautors. Inspirieren läßt er sich durch Störungsberichte aus der ganzen Welt. Auf den Störfall, an dem er gerade bastelt, kam Dürr durch einen Umbau an der Regelautomatik im AKW Neckarwestheim. Was passieren kann, prüft er mit den Betreibern des Original-Kraftwerks. Steht dann nach sechs Wochen das Grundgerüst fürs Drehbuch, arbeitet Dürr die Schulungsmaterialien aus. Den täglichen vier Stunden am Modell folgt die gleiche Stundenzahl an theoretischer Nachbereitung.
Auf die programmierte Panne für die nächste Schulung freut sich Dürr: "Hier sind die Leute gefordert, das Problem ohne allzu große Auswirkungen auf die Anlage zu beheben." Wie das geht, erfahren sie im Betriebshandbuch: 48 rote Aktenordner stehen im Pult in der Mitte der AKW-Warte. Was das WartenTeam auch tut – es muß gemäß der darin dargelegten Regeln der Kraftwerks-Kunst geschehen.
Auf einem der Leitstände hockt der Stoffigel Mecki. Mit rot-kariertem Hemd und abstehenden Haaren trägt er zum Realismus in der Warte bei. In Neckarwestheim sitzt das stachelige Säugetier seit 1978, im Simulator seit einem Jahr. "Die Ankunft haben wir mit Brezeln gefeiert", erinnert sich Dürr.
Im AKW Isar 2 ist vor einer Stunde ein Dampferzeugerheizrohr gebrochen. Der Ausbildungsleiter thront hinter seinem Pult und beobachtet die fünf Atomarbeiter. Er erklärt: "Es geht einfach darum, den Fehler zu erkennen und den Reaktor kontrolliert herunterzufahren." Das haben die AKWler bisher geschafft. Am Leitstand lehnt der Schichtleiter im grauem Wollpullover mit watschelndem Krokodil drauf. Entspannt schaut er auf die Anzeigen: "Die Störung haben wir erkannt, jetzt geht es nur ums Überwachen." Plötzlich piept es. Irgendwo wird ein neuer Meßwert angezeigt. In mattem Silber glänzen die Armaturen. Kurven und Striche entstehen auf den Monitoren. Kollege Reaktorfahrer bestätigt mit einem Knopfdruck die Information, leger in seinen Sessel zurückgelehnt.
Gerade wird der Siedewasserreaktor Grundremmingen angefahren. Keine besonders kreative Störung von Ausbilder Rainer Lange, sondern Teil des Routine Wiederholungskurses. Dementsprechend ruhig schlendern Schichtleiter und Komparsen in Jeans und Sweatshirt von Leitstand zu Leitstand, drücken hier, drehen da. Wie die Schichtleiter hat auch Lange ein Maschinenbaustudium hinter sich. Danach kamen dreieinhalb Jahre Reaktorschulung. "Ich wollte immer zur Kernenergie, die Technik fasziniert mich", erklärt Lange zögernd. Seit neun Jahren unterrichtet er nun. Daß vielleicht bald keine Reaktoren mehr angefahren werden, kann er gar nicht verstehen: "Ich habe keine Probleme mit der Technologie. Mal schauen, was die Konsensgespräche bringen."
Werden Lange und die übrigen 150 KSG-Mitarbeiter die Besucher in zwei Jahrzehnte durch ein Kernkraft-Museum führen? Der technische Geschäftsführer Dr. Erwin Lindauer schaut skeptisch über den Rand seiner Lesebrille. Und lacht: "In 20 Jahre haben wir hier die Simulatoren für die neusten Kraftwerke stehen. Und die Leute wundern sich, was für komische Dinge um die Jahrtausendwende geschahen."
In der Eingangshalle hat der Einstieg in den Ausstieg begonnen. Eigentlich sollten Reaktorkühlkreislauf, Wasserpumpen und Kühlwasser des AKW- Modells Emsland in rot, gelb und grün leuchten. Doch jemand hat den Mini-Meiler vom Netz genommen. Immerhin: Ein Anfang.