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"Time 100": Web-Guerilla manipuliert US-Promi-Wahl (Spiegel Online, 17.4.2009)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

“Time 100”

Web-Guerilla manipuliert US-Promi-Wahl

Das US-Magazin “Time” will sich bei seiner Wahl der 100 einflussreichsten Personen des Jahres mit einer Pseudo-Wahl im Web schmücken und nimmt sogar Web-Guerillero Moot als Kandidaten auf. Die Reaktion: Hacker knacken das Abstimmsystem und führen das PR-Spiel ad absurdum.

Spiegel Online, 17.4.2009

“Jahr für Jahr entscheidet die Redaktion des US-Magazins “Time”, wer denn dieses Mal zu den 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt gehört. 2009 können die Online-Leser von “Time” aus einer Liste von 203 Vorschlägen ihr eigenes “Time 100”-Ranking wählen. Zu den von der Redaktion vorausgewählten Personen gehören Politiker wie Barack Obama, Manager wie Steve Ballmer und der Mehrheit der “Time”-Leser bislang wohl vollkommen unbekannte Persönlichkeiten wie Moot.

Herr Moot steht derzeit auf Platz eins dieser Liste und hat mehr Stimmen gesammelt als die übrigen Kandidaten in der Top Ten zusammen – zweifelsohne ein Hack.

Wer bitteschön ist Moot?

Moot heißt ein junger Mann im Netz, der das Web-Forum 4chan gegründet hat. Das Forum war eigentlich als Tausch- und Zeigebörse für Anime-Bildchen gedacht, ist aber inzwischen zu einem Treffpunkt für Millionen von Menschen geworden, von denen einige anonyme, anarchische und großartige Netzstreiche ausgebrütet haben. Einige der Web-Phänomene, die ihren Ursprung in den 4chan-Foren genommen haben:

  • Lolcats, niedliche Katzenfotos, garniert mit absurden Sprüchen und einer ganz eigenen Grammatik
  • ein Google-Hack, bei dem ein Hakenkreuz und die Sätze “Scientology is a Cult” und “Fuck you Google” an die Spitze der Google-Hot-Trends-Liste gedrückt wurden
  • das Anti-Scientology-Projekt “Chanology”

Wenn man all diese albernen, dämlichen, lustigen und bisweilen sehr schlauen Späße auf einen Nenner bringen will (und den abstoßenden Müll im 4chan-Forum ignoriert), könnte der lauten: Öffentlichkeits-Hack.

Die bei 4chan erdachten Web-Streiche binden, kanalisieren und erzeugen Öffentlichkeit mit ganz anderen Mitteln und Methoden als die klassischen Massen- und die meisten Netzmedien: Bei den aus 4chan ins Web wuchernden Ideen, Phrasen und Bildmontagen treibt nicht eine übergeordnete Instanz die Popularität hoch, sondern zunächst ein anonymer Mob, den auch Herr Moot nicht steuert.

Dass dieser Moot nun in der “Time”-Liste auftaucht, ist vor diesem Hintergrund absurd und entlarvend zugleich: “Time” nennt Moot eine einflussreiche Persönlichkeit, obwohl die Macht des von ihm gegründeten Forums aus der Struktur, der Anonymität, Vielfalt, Vernetzung und Regelarmut resultiert.

“Time” baut den Lesern einen Demokratie-Sandkasten

Dass “Time” statt Strukturen lieber Personen einflussreich nennt und als solche wählen lässt, ist bezeichnend: Dieselbe Denkweise, die diese Auswahl prägt, offenbart sich auch im Procedere der sogenannten Wahl der “Time 100”. Das ganze Wahl-Getue ist eine Farce, die dem Event einen modernen, hippen, netzaffinen Anstrich verleihen soll.

Denn wer als wichtig postuliert wird, bestimmt letztendlich die “Time”-Redaktion: Wer in der 100er-Liste im Heft auftaucht, entscheiden nicht die Leser, sondern die “Time”-Macher. Im Web hat man einen kleinen Sandkasten fürs Publikum gebaut, wo die Leser etwas Netzdemokratie spielen und aus 203 vorab ausgewählten Kandidaten ihre Favoriten wählen dürfen. Die redaktionelle Vorauswahl markiert die Grenzen des Sandkastens. Und was die Web-Nutzer hier bauen, wird den Web-Spielplatz von “Time” nicht verlassen: Die im Magazin abgedruckte “Time 100”-Liste bestimmt die Redaktion allein, die Abstimmung im Web hat damit nichts zu tun.

Jemanden wie Moot in diese zynische Pseudo-Wahl aufzunehmen, ist berechnend (“Time” demonstriert: Wir nehmen die Web-Öffentlichkeit ernst). Aber die so wunderbar eingefädelte, eingeschränkte und durchgeplante PR-Veranstaltung ist den Machern in aller Öffentlichkeit außer Kontrolle geraten: Aktuell (Freitag, 10 Uhr) führt Moot die Liste der Leserwahl mit knapp 17 Millionen Stimmen an – der nächst plazierte Kandidat hat gerade mal gut 2 Millionen Stimmen.

Öffentlichkeits-Hack führt “Time” vor

Hier manipuliert augenscheinlich jemand die Pseudo-Wahl. Der Öffentlichkeits-Hack ist auf den zweiten Blick noch weit raffinierter als ein simples Moot-nach-oben: Reiht man die Anfangsbuchstaben der ersten 23 Kandidatennamen auf dieser Liste hintereinander, liest man diesen Nonsens-Satz: “Marble cake also the game.”

Offenkundig beeinflusst jemand die “Time”-PR-Abstimmung so raffiniert, dass seit Tagen das Stimmverhältnis der Kandidaten immer so austariert bleibt, dass die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen diesen Gaga-Satz ergeben. Wie könnte man den Unsinn eines solchen 100-Machtmenschen-Ranking deutlicher zeigen?

Hier legt ein Medium eine mehr oder minder willkürliche Rangfolge fest, letztendlich allein um einer interessanten Rangfolge willen, die Aufmerksamkeit fürs Blatt bringt und Diskussionen provoziert. Niemand glaubt wirklich, dass Person eins im “Time”-Ranking mächtiger ist als Person zwei und drei. Aber so eine Abfolge ist interessant – ganz einfach, weil es eine Abfolge ist. Der Wert dieser Aussage ist letztlich derselbe wie der einer Rangfolge, die eben dem Prinzip folgt, dass die Anfangsbuchstaben den Satz “Marble cake also the game” bilden.

Diesen großartigen Hack hat zuerst der Apple-Programmierer Paul Lamere in seinem Blog beschrieben. Wenig später meldete sich ein anonymer Web-Nutzer, der angeblich am “Time-100”-Hack beteiligt war und erklärte ihm, wie das technisch funktionierte. Einfach gesagt: Anfangs war es nur möglich, Moot in der List nach oben zu wählen. Die Abstimmung war anfangs technisch nicht besonders aufwendig geschützt, so dass kleine Programme, sogenannte Autovoter, sehr schnell Moot nach oben und die anderen Kandidaten nach unten stimmen konnten.

Dann löschte “Time” die offenkundig manipulierten Abstimmungsergebnisse, spielte offensichtlich einen älteren Stand aus einem Backup ein und ergänzte die Web-Abstimmung um einige Sicherheitsmechanismen.

Die im 4chan-Forum organisierten Hacker nahmen auch diese neuen Hürden, manipulierten die Abstimmung weiter und schafften es schließlich mit etwas Glück, viel Arbeit, zwei Perl-Skripte (mit angeblich weniger als 200 Codezeilen) zu schreiben und so einzusetzen, dass bis zu 50.000 Stimmen in der Minute von einem Server abgegeben werden können, so dass die Namenskombination “Marble cake also the game” konstant an der Spitze der “Time 100”-Liste bleibt. Marble Cake soll der Name des Internet-Relay-Chat-Kanals gewesen sein, in dem die Kriegserklärung der Anonymous-Hacker an Scientology erdacht wurde.

Und so hat sich die anonyme Web-Guerilla, für die in dieser Pseudo-Wahl angeblich mächtiger Menschen kein Platz war, einen Platz in dieser Liste erkämpft. Oder richtiger: Die ersten 21 Plätze.


Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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