Rebell mit Fernsehsender (Die Welt, 31.01.2001)
Rebell mit Fernsehsender
Michael Westphal ist ein Tausendsassa: Erst gründete er die erste Mitflugzentrale Deutschlands, dann arbeitete er als Journalist und schrieb Gags für RTL. Sein neuestes Projekt: Mit TV1.de die Nummer eins im Internet-Fernsehen werden
Die Welt, 31.01.2001
Bis zur Hüfte ist Michael Westphal Unternehmer: schwarze Lacklederschuhe, schwarze Socken, graue Anzugshose. Weiter oben beginnt der Rebell: leicht abgewetzte Lederjacke und eine DJ-Umhängetasche. Rebell würde der 35-Jährige sich selbst aber niemals nennen, schließlich will Westphal Geld machen – nur eben mit etwas ungewöhnlicheren Dingen als andere: Gagschreiberei zum Beispiel, der ersten Mitflugzentrale Deutschlands und, im Moment, dem Internet-Fernsehsender TV1.de.
Das erste Vollprogramm im Netz sendet seit April täglich bis zu 20 Minuten eigenproduziertes Programm. Am Anfang waren Beiträge von maximal anderthalb Minuten das Ziel, heute sind es eher Vier- bis Fünfminüter. Das Bildmaterial wird noch größtenteils von Nachrichtenagenturen oder freien Produktionsfirmen gekauft und in der Sendezentrale vor den Toren Münchens bearbeitet, Bannerwerbung auf der Homepage soll das Ganze finanzieren. Ebenso wichtig sind zielgruppenspezifische Auftragsproduktionen wie die täglich gut zehn Minuten Nachrichten aus der Autowelt für das Portal Auto-Manager.de oder ein geplanter Finanzkanal mit täglich acht Stunden Live-Programm für die Website einer Bank.
Den größten Vorteil des Internet nutzt TV1 intensiv: Der Zuschauer kann sein Programm nach Sparten zusammenklicken oder sich einfach die sieben neuesten Nachrichten zeigen lassen. Trotzdem sieht auch Westphal zurzeit im Netzfernsehen keine Gefahr für das herkömmliche General-Interest-Programm: "Spannend sind vor allem kleine Zielgruppen. Etwa die 10 000 bis 15 000 Automanager, die sich ihre maßgeschneiderten Nachrichten im Netz anschauen – weil es keine Alternative gibt."
Das Programm von TV1 stemmen momentan 35 Mitarbeiter. Von ihnen sind am Freitagmorgen nicht viele zu sehen. In Internet-Firmen arbeitet man zwar viel – allerdings nicht unbedingt ab neun. Dann stürmt Michael Westphal herein, an der Sekretärin vorbei, die ihm weder Post noch Kaffee reicht, sondern schlicht "Hallo" sagt. Weiter geht es quer durch sein Büro, in dem es sich sogar ein Laster der benachbarten Speditionsfirma gemütlich machen könnte, an den Computer. Westphal holt seine Post selbst – im Stehen, aus dem elektronischen Briefkasten.
Wenigstens sieht der Schreibtisch nach Chef aus: Eine graue Marmorplatte, groß wie ein Ehebett, über eine Tonne schwer. Die hat Westphal von seinem "zweitbesten Freund aus Schulzeiten" bekommen, einem Steinmetz. Darauf liegen drei Fernbedienungen, zwei Handys, Angebote von dpa-online, ein Brief von der Bayerischen Landesmedienanstalt, Themenpläne und über all dem eine Baseballmütze. Das Telefon klingelt. "TV1-Team, Westphal." Herr Gisy ist dran, ein potenzieller Geldgeber. "Ja, hallo, ich bin's selber", sagt Westphal und berichtet: "Der Börsengang ist geplant, den Businessplan mache ich noch. Ja ja, da sollten wir mal sprechen."
So direkt und schnell macht Herr Gisy wohl nicht oft Termine, aber mit dem lockeren Westphal kommt man eben ohne große Umschweife auf den Punkt. Von dessen unkomplizierter Art erzählt auch ein Mitarbeiter begeistert: "Er hat mich beim Vorstellungsgespräch nicht nach meinem Lebenslauf gefragt, sondern nur, wie meine Wanderung um die Welt war. Dann meinte er, er traue mir den Job zu – und das war's."
Westphals eigene Karriere als Unternehmer begann im Sommer 1988: Mit 3000 Mark Entlassungsgeld von der Bundeswehr in der Tasche lag er mit seinem Freund Christian am Strand bei Venedig, dachte über die Zukunft nach – und hatte als Hobbyflieger die Idee, die erste Mitflugzentrale in Deutschland zu gründen: Piloten melden freie Sitze in ihren Privatmaschinen, Westphal vermittelt sie mit Aufschlag weiter. Als sie im August 1988 mit einem Amiga und drei Telefonen neben dem Lager eines zahntechnischen Labors eröffneten, stürzte ein Kleinflugzeug am Münchner Flughafen ins McDonalds-Restaurant. Das bescherte den Jungunternehmern reichlich Presse. Die Zeitschrift "Tempo" titelte damals: "Billig abstürzen". Die Mitflugzentrale machte sie bekannt, Geld verdienten die Jungunternehmer aber mit Last-Minute-Reisen und der Vermittlung von Frachtplatz.
Das Politikstudium schmiss Westphal 1988 schon nach dem ersten Semester – die Firma brauchte einfach Zeit. 1992 war aus den drei Telefonen und dem Amiga Münchens zweitgrößtes Last-Minute-Büro geworden. Westphal verkaufte an TUI und begann, als Journalist zu arbeiten. Heute schmunzelt er über die Zeit, als die Faxgeräte beim "Münchner Merkur" so groß wie Kühlschränke waren. Dann wird Westphal ernst und erinnert sich an seine Erfahrungen beim Fernsehen: "In der Zeit für ,Explosiv' habe ich gemerkt, dass es Wichtigeres gibt, als bis 17 Uhr vier Minuten Interview mit den Angehörigen des Bürgermeisters zu haben, der seine Frau erschossen hat." Ein paar Jahre war er noch Nachrichtensprecher bei Radio Gong und dem MDR, dann war Schluss mit dem Journalismus.
1995 schrieb Westphal dann Gags für die RTL-Sendung "Samstag Nacht". Wie den Nachruf auf einen Schuhcremehersteller: "Und damit ging einer der größten Wichser von uns." 1998 kämpfte Westphal mit einer neuen Herausforderung: Videoclips ins Internet stellen. Er traf den Schulfreund Johann Soukup wieder, der inzwischen Maschinenbauer und Wirtschaftsingenieur war. Zusammen gründeten sie TV1.de. Das Unternehmen wurde schnell Marktführer und übertrug Pressekonferenzen für IBM, AOL und Motorola, den Börsengang von Intershop und den Wahlkampfauftakt der CDU live ins Netz. Die Münchner waren ebenfalls dafür verantwortlich, dass das Treiben im "Big Brother"-Haus reibungslos auf die Web-Seite der Show übertragen wurde. Das bescherte dem Unternehmen 1999 einen schmalen Gewinn von 150 000 Mark. Um den Profit für 2000 war es in dem Moment geschehen, als Michael Westphal unter der Dusche eine Vision hatte: "Ich wollte immer meinen eigenen TV-Sender, warum nicht im Internet?" Ein kostspieliger Traum, für den viel investiert werden musste.
Übers Internet redet Westphal mit der Beigeisterung, die nötig ist, wenn man damit Geld verdienen will: "Die große Welle kommt noch, dann müssen wir oben bleiben, auf der Gischt, dem Wellenkamm." Da muss Westphal dann doch grinsen. Wie ein Junge lacht er über das tonnenschwere Sprachbild. Bei dem schiefen Grinsen müsste er eigentlich die Lederjacke anhaben. Der nächste Satz und der ernste, geradeaus gerichtete Blick rufen dann aber die Anzugshose wieder in Erinnerung: "Wir werden uns das nötige Kapital für unsere Ideen auf dem freien Kapitalmarkt holen. Und dann heißt es vor allem, das in uns gesetzte Vertrauen der Anleger erfüllen." Die Nummer eins im Internet-Fernsehen sein, das ist Westphals Traum. Sagt er. Und dann kommt etwas, was weder zu Anzugshose noch Lederjacke passt: "Eine Familie ist als Idee schon da, vielleicht wird das in drei Jahren etwas." Aber erst muss der Businessplan für Herrn Gisy geschrieben werden.