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Reiseerzählungen (Frankfurter Rundschau, 6.8.2002)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

Reiseerzählungen

Die Renaissance der Virtual Reality im Computerspiel 

Frankfurter Rundschau, 6.8.2002

Sich kräuselndes Wasser, ein Regenschauer, selbst ein Sandsturm ist in der Welt von Morrowind vor allem ein ästhetischer Genuss. Um sich an diesen eigentlich so gewöhnlichen Dingen zu erfreuen, werden Menschen jetzt ihre Computer für viel Geld aufrüsten. Denn das neue Spiel stellt höchste technische Ansprüche. Selten zuvor war der Gegensatz zwischen hochmoderner Technik und antiquiertem Inhalt so groß. Unmodern und zugleich enorm faszinierend ist Morrowind, weil alles darin die Bild gewordene Idee Virtueller Realität ist, die man aus den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kennt.

450 Milliarden Variationen des Spielcharakters sind in Morrowind theoretisch möglich, fast 300 000 Objekte existieren in der sich über Zehntausende von Quadratkilometern erstreckenden Spielwelt. Morrowind beschwört noch einmal die Idee der Flucht in einen Raum jenseits, irgendwo parallel zu unserer Welt. 500 Stunden sollen die Spieler laut Projektleiter Todd Howard mit – oder besser in – Morrowind verbringen, wenn sie alle von den Entwicklern angelegten Geschichten durchspielen. Die Bäume, Flüsse und Hügel dieser Welt sollen den Reiz ihre physischen Vorbilder so sehr übertreffen, dass allein schon ihr Anblick den Spieler fesselt: "Ich hoffe, dass jede Gegend die Spieler zwei Minuten still stehen lässt", sagt der künstlerische Leiter Matt Carofano.

Dieses Streben, einen neuen, perfekten Raum zu schaffen, leugnet heute viel wirkungsmächtigere Ideen und Technologien. Die sind darauf aus, den bestehenden Raum zu transformieren und zu erweitern. Der Medientheoretiker Lev Manovich stellte vor kurzem fest, dass das Jahrzehnt des Virtuellen mit den 1990er Jahren zu Ende gegangen sei. Nun könnte die Dekade des "physischen Raumes, angefüllt mit elektronischer und visueller Information" beginnen. Die Verwandlung unserer Lebensumwelt in einen Datenraum hat bereits begonnen: Neue Informationen werden zum Beispiel über Gesichtserkennungsprogramme oder Verkehrsleitsysteme aus bestehenden Räumen gezogen, ohne dass die sich in ihm bewegenden Menschen es bemerken. Diese Entwicklungen werden heute unter Schlagworten wie "location based gaming" oder "augemented reality" verhandelt und bereits als Videoüberwachung oder "global positioning system" (GPS) praktiziert. Das bedeutet zum Beispiel, dass man sich Informationen zu Restaurants in der Straße, in der man sich zufällig gerade befindet, auf's Mobiltelefon schicken lassen kann – die Daten werden hier auf wenige hundert Meter genau segmentiert, der physische Raum mit Informationen angereichert.

Die Kunst hat dieses Verschmelzen des realen Raumes mit elektronischer Datenerfassung schon längst verarbeitet. Das italienische Künstlerduo 0100101110101101.org fand Anfang dieses Jahres mit dem Projekt Vopos angemessene Bilder für die von Manovich und vielen Unternehmen erwartete Zeitenwende zum Datenraum. Vopos visualisiert die Bewegungen der Künstler. Beide tragen ständig GPS-Transmitter mit sich, die über ein Mobiltelefon die jeweiligen Koordinaten an einen Computer schicken. Der verzeichnet die Standorte auf Landkarten, die dann jedermann im Internet betrachten kann. So wird das Informationspotential in dem uns heute schon ständig umgebenden Datenrauschen sichtbar.

Angesichts dieser Entwicklung erscheinen Spiele wie Morrowind oder das ebenfalls kürzlich erschiene Neverwinter Nights antiquiert. Und doch reizen sie – geht man von den Verkaufszahlen aus – erstaunlich viele Menschen mit dem Versprechen der Existenz in einem Virtual-Reality-Raum – und mit ihrer klassischen narriven Form. Morrowind erzählt eine Reise in Episoden. Der Spieler trifft auf einem Schiff in einer Hafenstadt des Kontinent Vvardenfell ein. Auf kaiserlichen Befehl wurde er aus einem Gefängnis entlassen, allerdings ohne zu wissen warum. Von da an muss er sich das Land, dessen und seine Geschichte, letztendlich auch die eigene Identität erreisen. Die Episoden seines Weges bestimmt der Spieler allein. Erst nach zwanzig oder mehr Stunden Spielzeit offenbart sich ihm der eigentliche Plot des Spiels, doch selbst dann muss dieser nicht verfolgt werden. Es reicht völlig aus, in der Welt von Morrowind zu leben und sie sich Wegstrecke für Wegstrecke zu erschließen.

Die Spieler beklagen sich verblüffenderweise nicht über den langen Spannungsbogen des Plot. Es geht in Morrowind weniger um Spannung als um das Erfahren einer Welt. Ähnlich in Neverwinter Nights: Im Gegensatz zu Vorläufern haben die Designer hier auf eine Herde von parallel spielbaren Charakteren verzichtet. Im Mittelpunkt steht allein der Reisende.

Das erinnert an die Reiseerzählungen der Renaissance, vor allem an die Beschreibungen der Neuen Welt wie Richard Hakluyt The Principal Navigations. Beispielhaft für episodisches Erzählen ist John Smiths A True Relation von 1608, worin die Siedler zunächst einen Ort für ein Dorf suchen, dann mit Indianern kämpfen, dann weiterziehen, dann mit Krankheiten kämpfen, dann von Indianern gefangen werden – und so weiter. Die Texte erreichen durch diese episodische Struktur ihr eigentliches Ziel: Sie machen den fremden Raum langsam erfahrbar, ja sie ermöglichen es dem Leser, den Raum Stück für Stück unter seine Kontrolle zu bringen. Die Dramaturgie scheint oft dem Hauptanliegen untergeordnet, den Zuschauer an möglichst viele Orte zu führen und ihn diese ausgiebig betrachten zu lassen.

Diesem Muster folgt auch der Virtual-Reality-Roman schlechthin, Tolkiens Herr der Ringe. Die eigentliche Dramaturgie des Werks kann man nicht so sehr im Text, sondern viel besser auf der dazugehörenden Landkarte nachvollziehen. Die Tagesmärsche, Bootsfahrten und nächtlichen Ritte der Protagonisten fügen sich zur virtuellen Welt im Kopf des Lesers zusammen.

Auch bei Morrowind und Neverwinter Nights kann der Spieler die Reisen seines Spielcharakters auf einer Karte nachvollziehen. Die liegt bei beiden Spielen auf ganz gewöhnlichem Papier gedruckt bei. Hier wird die Kontinuität des Topos trotz des neuen Mediums deutlich: Das individuelle Spielen ist die Aufführung der kartographischen Notation, ihr Ergebnis die Welt im Kopf des Spielers.

Das ist der große Vorteil der virtuellen Realität, wie sie in den neunziger Jahren so populär war: Sie lässt sich in bekannten Mustern erzählen, weil sie bekannte Bedürfnisse befriedigt. Mit welchen klassischen Erzählungen aber ließe sich "augemented reality" beschreiben? Deren Anwendungen verwischen das Kategoriesystem von innen und außen, virtuell und real in beängstigender Weise. Ein Beispiel: Das Unternehmen Silicon Graphics – im vergangenen Jahrhundert vor allem wegen seiner Virtual-Reality-Maschinen bekannt – bietet unter dem Namen "visual area networking" eine Technologie an, die Folgendes leistet: Ein Soldat betrachtet auf einem tragbaren Computer ein hochaufgelöstes, fotorealistisches, dreidimensionales Bild der feindlichen Truppen, die wenige Meter entfernt jenseits eines Hügelkammes lagern. Die Daten für die Bilder hat eine Drohne gesammelt, errechnet wurden sie weit entfernt von einem Onyx-Hochleistungsrechner irgendwo im Hinterland, übermittelt hat sie ein Satellit.

Die "augemented reality" ist somit das Gegenteil der "virtual reality". In Hakluyts The Principal Navigations, Tolkiens Der Herr der Ringe oder Morrowind wird ein Raum im Sinne des Historikers Michel de Certeaus in konkrete Orte verwandelt. Der Leser – beziehungsweise Spieler – entdeckt den Raum, schafft so seine eigene Erzählung von ihm und kolonialisiert ihn durch Zu- und Festschreibung der gschaffenen Strukturen zum Ort. Die Technologien der "augemented reality" hingegen verwandeln fest eingeordnete Orte durch Anreicherung oder Extraktion von Informationen zurück in Räume.

Das ist beängstigend, und diese Angst ist wohl ein Grund für den Erfolg der Welten von Morrowind und Neverwinter Nights. Spiele wie Majestic, die mit dem Konzept der "augemented reality" arbeiteten, waren kommerzielle Misserfolge. Sehr erfolgreich sind hingegen technisch hochmoderne Spiele, wenn sie zu Rückzugsräumen vor den Anforderungen der technischen Avantgarde an unser Weltbild werden.

Es sind zweifellos faszinierende kleine Welten, die eine narrative Architektur ähnlich der von Themenparks aufweisen, fast vollkommen den Wünschen ihrer Bespieler entsprechend geformt. Die Designer beider Spiele haben ihre Aufgabe verstanden und den Spielern dieselben Werkzeuge zum Weltenbau gegeben, die sie selbst benutzten. Die Spieler sind jetzt in Morrowind angehalten, ihre eigenen Inseln und Kontinente vor der Küste des Kontinent Vvardenfell zu schaffen – und über das Internet mit anderen zu teilen. Es ist kein Zufall, dass das auffälligste Novum bei Morrowind das Ende ist: Mit dem Plot hört die eigentliche Erzählung des Spiels nicht auf. Der Spielcharakter kehrt danach vielmehr in die Spielwelt zurück, die der Spieler dann weiterhin erreisen, entdecken, in Orte verwandeln kann. Ein schönes Ende.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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